Mariam meint

Die Zeit geht mit der Zeit! Und zwar bereitwillig, mit der Zeit der Seehofers und Salvinis. Sie gönnt sich in der aktuellen Ausgabe auf Seite 3 ein Pro- und Contra nichtstaatliche Seenotrettung, der ursprüngliche Titel in der Onlineausgabe (rücksichtsvoll hinter der Paywall versteckt inzwischen öffentlich zugänglich) lautete „Seenotrettung: Illegaler Shuttleservice„.

Hätte ich es in den gut 30 Jahren Leserschaft je zu einem Zeit-Abo gebracht, hätte ich es gestern gekündigt. Weil ich es für journalistisch unredlich und politisch fahrlässig halte, egal welche Rettung aus Seenot als diskussionsfähiges Thema zu behandeln. Weil ich es hinterfotzig finde, den von rechtsradikalen Politikern ohnehin schon kriminalisierten NGOs noch auf so perfide Weise in die Kniekehlen zu treten. Und weil ich nicht dafür zahlen wollte, daß Die Zeit die Festung Europa legitimiert, die unantastbare Menschenwürde begrabbelt und dem bürgerlichen Rechtsradikalismus im deutschsprachigen Raum auf den Weg hilft.

Das Pro ist von Caterina Lobenstein und nicht weiter auffällig, das Contra hat es in sich. Es stammt von Mariam Lau, über die ich mich schon öfter aufgeregt habe und deren Drift ins Rechtsäußere, Inhumane immer weiter fortschreitet. Sie war vor einer Weile mit dem religiösen Oberhaupt der Lubawitscher auf der Neuköllner Sonnenallee unterwegs an der Front auf der (unerfolgreichen) Suche nach muslimischem Antisemitismus und ist nicht Neukölln, so ist eben Kreuzberg und zwei grüne Welten der Hort allen Übels. Sie gruselte sich wohlig im Kubitschek’schen Ziegenkäse und titelte ihren Besuch in Schnellroda in Die Zeit mit Eigentlich alles wie im Wendland. Sie saß auf Edathys Bettkante und fernurteilte und -diagnostizierte, was das Zeug hielt, Zeit-Titel: Der Fall Edathy: Wer die Schuld trägt. Highway to Hell.

Sie hat einen eigenwilligen Stil, in ihren Texten gibt es immer eine Menge an einzwei Fakten festgezurrtes Gemeine und Geraune, oft benutzt sie Dritte als ihre Handpuppe und läßt die aussprechen, was sie selbst dann lieber doch nicht hinschreibt. Das muß sie aber auch gar nicht, denn sie läßt ihren Lesern stets reichlich Raum für rechtspopulistische Kurz- und Fehlschlüsse.

Mariam Lau ist eine eloquente, kluge Frau. Jedenfalls klug genug, um einen knappen Fingerbreit unterhalb einer erfolgversprechenden Beschwerde beim Presserat zu segeln. Das fand gestern abend auch Die Zeit wichtig und klärte ihre dummen Leser auf:

Wir bedauern, dass sich einige Leser in ihrem ethischen Empfinden verletzt gefühlt haben, und dass der Eindruck entstehen konnte, die ZEIT oder auch Mariam Lau würden einer Seenotrettung generell eine Absage erteilen.

Dies ist nicht der Fall.

Sabine Rückert
Bernd Ulrich

Das ist der blanke Hohn, denn Mariam Laus Haltung zu Recht, Flucht, Migration, Asyl ist weder mißverständlich noch neu. Im Deutschlandfunk verkündete sie im vergangenen November in Kenntnis der schrecklichen Situation in Libyen: „Es gibt keinen anderen Weg als Abschreckung“ – knapp zusammengefasst: Europa ist von Feinden umgeben und Flüchtlinge/Migranten sind an allem schuld, u.a. an rechtsradikalen Regierungen und am Brexit.

Aber zu ihrem launigen Contra-NGO-Seenotrettung in Die Zeit:

Das Ertrinken im Mittelmeer ist ein Problem aus der Hölle, ein politisches Problem, zu dessen Lösung die private Seenotrettung null und nichts beizutragen hat. Denn Politik besteht eben nicht darin, das vermeintlich Gute einfach mal zu machen, sondern darin, die Dinge im Zuammenhang zu betrachten und auch die Nebenwirkungen gut gemeinten Handelns.

Ich bin ziemlich sicher, daß knapp Nicht-Ertrunkene die Dinge im Zusammenhang ein klein bißchen anders sehen als  Mariam Lau und den Beitrag der nichtstaatlichen Seenotretter für alles andere als null und nichts halten. Lau aber läßt nicht nur die Flüchtlinge/Migranten (von den Fluchtgründen fange ich jetzt gar nicht erst an), sondern auch die Situation im Mittelmeer komplett außen vor. Nichtstaatliche Seenotretter sprangen erst ein, als die europäische staatliche Seenotrettung zurück gefahren wurde. Aktuell rettet kein einziges NGO-Boot Menschen vor dem Ertrinken im Mittelmeer, nachdem x Boote beschlagnahmt und Besatzungen angeklagt wurden. Nicht nur die NGO-Schiffe können in Italien nicht mehr ausschiffen, auch Handelsschiffe und die italienische Küstenwache sind angewiesen, Flüchtlinge/Migranten der libyschen Küstenwache zu überlassen.

Das nennt sich Refoulement und ist verboten. <-Das ist ein Problem aus der Hölle, wenn man schon Anglismen unbedingt ins Deutsche übertragen muß – die Aufweichung von internationalem Recht mit Hilfe der 4. Gewalt, die sich in Person von Mariam Lau ganz offenbar buchstäbliche Gewalt herbeiwünscht. Dazu empfiehlt sich Klitterung und blanke Lügen:

Und der Zusammenhang ist leider so: Die Retter sind längst Teil des Geschäftsmodells der Schlepper. Die New York Times veröffentlichte 2016 eine Grafik, in der man einen Zusammenhang zwischen der Nähe der Rettungsschiffe zur libyschen Küste und der Zahl und Qualität der Flüchtlingsboote sehen kann. Was die italienische Küstenwache vermag, das können de Schlepper auch: einen Radar lesen. Schlepper kennen die Namen und Kapazitäten der NGOs, sie brauchen gar keinen direkten Kontakt, um ihre Planung auf sie auszurichten. Je mehr gerettet wird, desto mehr Boote kommen – so einfach ist das, und so fatal.

Ich habe eine ganze Weile in der New York Times herumgesucht und fand diese Grafik (von 2017, keine Ahnung, ob Lau die meint). Sie hätte aber gar nicht so weit laufen müssen, um Fakten in Erfahrung zu bringen, denn Zeit Online/Die Zeit brachte am 19.7.2017 eine säuberliche Recherche: Weniger Helfer bedeuten mehr Tote, daraus:

Im März 2017 veröffentlichten Elias Steinhilper und Rob Gruijters von der Universität Oxford eine Studie, in der die Rettungsaktionen im Mittelmeer über mehrere Perioden hinweg miteinander verglichen wurden. Ihr Ergebnis: Verstärkte Rettungsaktionen führen keineswegs zu vermehrter Flucht. Der Vorwurf, mehr Retter produzierten mehr Flüchtlinge, ist demnach falsch. Ebenso die Formel, dass mehr Rettungsboote mehr Flüchtlinge anlocken würden. Den einzigen Zusammenhang, den Steinhilper und Gruijters fanden: Es gibt weniger Tote, wenn mehr Retter auf dem Meer unterwegs sind.

Lesen Sie den Artikel ganz, der lohnt sich, denn er zeigt auch den Zusammenhang zwischen dem Rückzug aus der staatlichen Seenotrettung ab Mare Nostrum und den allein deswegen notwendig gewordenen NGOs, ebenso frühere Versuche der Kriminalisierung nichtstaatlicher Seenotrettung anhand der Cap Anamur.

Laus Versuch, die NGOs zu kriminalisieren, kann also als widerlegt gelten. Aber vielleicht stehen ja die Schlepper und deren Geschäftspraktiken im Fokus ihres Werte- und Rechtsgebäudes? Dann wäre ihr allerdings anzuraten, sich mit dem Thema zu beschäftigen – allein schon, um dumme Logikfehler zu vermeiden. Denn den Schleppern in Libyen ist es gleichgültig, ob Flüchtlinge/Migranten gerettet werden oder nicht. Deswegen werden die Plätze in überfüllten Schlauchbooten vorher bezahlt. Seit keine NGO-Schiffe mehr unterwegs sind, ist die Zahl der Toten sprunghaft angestiegen, allein im Juni auf 629 Ertrunkene und das sind nur die, von denen man weiß. Wären die NGOs also tatsächlich Teil des Geschäftsmodells der Schlepper, hätten die Schlepper kaum noch Boote losgeschickt, denn allzu viele Tote sind schlecht fürs Geschäft und anderweitige Verwendungen für die in Libyen Festhängenden fände sich allemal.

Bei Schleppers werden allerdings angesichts der europäischen Refoulement-Politik die Korken geknallt haben. Denn was ist lukrativer als 1x Versklavung/Schleppung? Genau, das mit ein- und denselben Flüchtlingen/Migranten unter Billigung/Finanzierung der EU gleich mehrfach machen zu können. Die Festung Europa muß man als ambitioniertes Schlepper-Konjunkturprogramm begreifen.

Wer in Not ist, muß gerettet werden, das schreibt das Recht vor und die Humanität. Beide schreiben allerdings nicht vor, dass Private übernehmen, was die Aufgabe von Staaten sein sollte. Wie problematisch das ist, wird schnell deutlich, wenn man das Prinzip einmal auf ein anderes Feld überträgt: Es gibt immer mehr Wohnungseinbrüche und Überfälle, die Polizei ist zu schlecht besetzt – warum nicht private Ordnungskräfte sich selbst einsetzen lassen?

Das ist ein Vergleich, der nicht bloß hinkt, sondern schon auf allen Vieren kriecht. Nicht nur, daß es bewußte national- und europa-politische Entscheidungen sind, nicht in die Seenotrettung oder gar in die Bekämpfung der Fluchtursachen, sondern in Abschottung zu investieren – von einem schicksalhaften „zu schlecht besetzt“ kann also gar keine Rede sein. Sondern es ist auch eine infame, journalistisch unredliche Unterstellung, die NGOs – deren Einsätze bis vor kurzem exklusiv vom MRCC in Rom aka staatlich koordiniert wurden – hätten auch nur irgendetwas mit Selbstjustiz und Bürgerwehr gemein. Übrig bleibt, für Mariam Lau zu hoffen, daß sie nicht mal irgendwo in der Hüchte wohnt, wo es nur eine Freiwillige Feuerwehr gibt, die angesichts ihres brennenden Hauses und in Erinnerung ihrer Infamie eine Pro-/Contra-Löschen-Frage diskutieren möchte.

Ihr Verständnis von Menschenrechten ist absolut kompromisslos.

Welches andere Verständnis der universal gültigen, unteilbaren, unveräußerlichen Menschenrechte ist denn bitte für Demokraten denkbar, als ein absolut kompromissloses? Mariam Lau scheint ihrerseits über genügend Menschenrechte zu verfügen, wozu also brauchen auch noch andere Menschen die gleichnamige Würde und ein Recht auf Rechte – so, fürchte ich, muß man ihren Artikel lesen.

Leider wirken die Aktivisten aber auch an der Vergiftung des politischen Klimas in Europa mit. In ihren Augen gibt es nur Retter und Abschotter; sie kennen kein moralisches Zwischenreich.

Hm, bestimmt. Nichtstaatliche Seenotretter schöpfen aus dem Wörterbuch des Unmenschen und sie führen den Wählern rechtsradikaler Parteien den Stift in der Wahlkabine. Denn Abschottung gegen Asylsuchende, andernfalls Rechtsradikalisierung ist – according to Mariam Lau – ein Naturgesetz. Laus Suche nach Schuldigen nenne ich nicht nur ein moralisches, sondern auch ein journalistisch und rechtlich höchst zweifelhaftes Zwischenreich und würde es lieber nicht genauer kennenlernen.

An der Vergiftung des politischen Klimas scheint mir primär Mariam Lau interessiert. Bloß warum? Glaubt sie ernstlich, die heutigen und noch kommenden Faschisten würden sie verschonen, weil sie ihnen so schön auf den Weg geholfen hat?

Mariam Lau ist Ex-Flüchtling, sie ist Bahman Nirumands Tochter. Die Zeit, Mariam Lau (2015) – Vater Courage

Mein Vater ist ein Flüchtling. Ich hatte das völlig verdrängt. Wenn wir in Redaktionskonferenzen über das Thema Flüchtlinge reden, gehöre ich eher zu den Reaktionären. Ich mache mich für Abschiebungen stark, ich kann es nicht leiden, wenn so getan wird, als wäre nach oben offenes Asyl irgendwie kein Problem und als koste uns das alles gar nichts. …

Das hätte mich schon auf die Idee bringen können, dass da was im Busch ist mit mir und den Flüchtlingen. Dass es nicht einfach um politische Ansichten geht.

Mein Vater, Bahman Nirumand, war einst Deutschlands berühmtester Flüchtling. Hierhin war er in den sechziger Jahren aus dem von Schah Reza Pahlevi regierten Iran geflohen. Am Tag bevor der Schah im Juni 1967 die Deutsche Oper in Berlin besuchte, stand mein Vater im Audimax der Freien Universität und schrie seine Wut gegen das Regime in seiner Heimat hinaus. Bei der Demonstration am Tag darauf wurde der Student Benno Ohnesorg erschossen – die Initialzündung für die Studentenbewegung von 1968. Mein Vater wurde zu einer ihrer Galionsfiguren. Im Jahr 1979, nachdem die Mullahs den Schah gestürzt hatten, kehrte Bahman Nirumand jubelnd in den Iran zurück. Als zwei Jahre später die iranische Revolution endgültig in eine Diktatur kippte, musste er erneut fliehen. Diesmal kam er gebrochen und enttäuscht nach Deutschland.

Aus ihrer Kurzbiografie bei Zeit Online: Geboren in Teheran/Iran, 1962. Umzug der Familie nach Deutschland 1965, erst Tübingen, dann Berlin, mitten hinein in die Studentenbewegung. Aus Protest Krankenschwester gelernt und bis 1987 begeistert praktiziert, dann Abendschule, Studium der Amerikanistik in Berlin und Bloomington/Indiana.

Wie sie über andere Flüchtlinge/Migranten schreibt, kann man lesen. Wie sie über jemanden schriebe, der Asyl in Deutschland erhielt, zwecks Revolution in sein Herkunftsland zurückkehrte, erneut fliehen und um Asyl bitten mußte und nicht ihr Vater ist, stelle ich mir lieber gar nicht erst vor.

Zum öffentlichkeitswirksamen Messen mit zweierlei Maß und zum Gegrabbel an der Menschenwürde muß man privilegiert sein und ich glaube nicht, daß Boat People jemals ihre Flucht über das Mittelmeer als „Umzug“ und ihr Ertrinken als „Problem aus der Hölle“ beschreiben würden.

Die Zeit entstellte sich gestern einmal mehr zur Kenntlichkeit und Heribert Prantl hat in seiner Antwort darauf recht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser Satz muss der sicherste aller sicheren Sätze sein und bleiben.

 


Bild: Screenshot bei Twitter


44 Kommentare zu „Mariam meint

  1. Weil das schon wieder so ein ewig langer Blog geworden ist, habe ich zwei mir wichtige Punkte ausgespart: zum einen die feinsinnige Frage, was denn wäre, wenn die europäischen Grenzen offen wären, bei Mariam Lau:

    Stellen wir uns für zwei Minuten vor, wo Europa jetzt stünde, wenn man dem Drängen der Menschenrechtsorganisationen nach Legalisation aller Wanderungsbewegungen, ob Flucht oder Armutsmigration, nachgegeben hätte. Nach einem Europa ohne Grenzen. Eine Million, zwei Millionen, drei Millionen. Wie lange würde es wohl dauern, bis die letzte demokratische Regierung fällt?

    Zur Lektüre empfiehlt sich ein Artikel aus brand eins – Was wäre, wenn …
    … alle Grenzen offen wären?
    und ansonsten empfiehlt sich das Überdenken vermeintlicher Naturgesetze und ein bißchen weniger Angstlust und Katastrophitis.

    Zum anderen habe ich die afrikanischen Staaten ausgespart, für die ich aber heute zu platt bin, morgen oder so.

    1. Ach, sehr gern. Ich muß mit meiner Ermüdung an der immergleichen menschenfeindlichen Scheiße und am Zorn darüber ja irgendwo hin.
      Insofern und umgekehrt: vielen Dank für Ihr treues Lesen und Ihr Danke…;-)…

      Schauschau, der Deutschlandfunk hilft Mariam Lau bei den Erklärungen ihres Contra-Dings – Anke Schäfer in einem halbstündigen Gespräch mit Mariam Lau. Spoiler: war fast alles gaaanz anders gemeint. Es gibt offenbar nicht nur dumme Zeit-Leser, denen man nachträglich erklären muß, daß Mariam Lau gar nicht durch Ertrinkenlassen abschrecken will, sondern auch dumme dradio-Hörer. Stellt sich bloß die Frage, warum sie es nicht anders geschrieben hat, wenn sie es anders meint, als sie allgemein verstanden wurde.

  2. Ich wundere mich ein wenig über die Medienschelte. Die Zeit ist doch nun offensichtlich das Blatt des wohlsituierten Bildungsbürgers, welcher Konfliktscheu als Konsensorientiertheit tarnt und darüber hinaus in erster Linie an Statuserhalt interessiert ist.

    1. Gegenüberstellungen, darunter auch Pro-/Contra-Diskussionen, sind eine prominente und oft interessante Rubrik in Die Zeit und wenn ich die Zeitung mal für irgendetwas gelesen und geschätzt habe, dann für Meinungsvielfalt und für so kontroverse wie interessante Beiträge. Ich habe früher leicht eine Woche gebraucht, um Die Zeit ganz zu lesen, heute ist das in 3 Stunden passiert und ich bezweifele seeehr, daß ich soviel schlauer geworden wäre. Sondern die journalistische Qualität hat (sukzessive nach dem Verkauf an Holtzbrinck) abgenommen, zugunsten des wirtschaftlichen Erfolges in Form der Annäherung an die Insassen der Business Class Lufthansa und an alle, die dort auch gerne sitzen würden.

      In meinem Blog hat Medienschelte sogar eine eigene Kategorie, namens Medien. Will sagen: ich rege mich öfter mal über Medien und/oder Journalisten auf. Weswegen ich mich wundere, daß Sie sich wundern.

      1. Leicht erklärt: Ich erinnere mich nicht mehr so wirklich an die Zeit, als sie noch gut war. Ein wenig schon, aber die gute alte erscheint mir in nicht ganz so hellem Glanz.

  3. Ebenfalls Dank für die guten Zusammenfassungen und Recherchen.
    Dazu ein Zückerchen aus den Reihen der CDU:

    „Wenn 500 Millionen Europäer keine fünf Millionen oder mehr verzweifelte Flüchtlinge aufnehmen können, dann schließen wir am besten den Laden ›Europa‹ wegen moralischer Insolvenz.
    Norbert Blüm (CDU).“
    Quelle: JW heute.

    1. Hier der gesamte Gastbeitrag von Norbert Blüm in der Süddeutschen – Wo, C, bist du geblieben?, daraus der Kontext Ihres Zitates:

      Wenn 500 Millionen Europäer keine fünf Millionen oder mehr verzweifelte Flüchtlinge aufnehmen können, dann schließen wir am besten den Laden „Europa“ wegen moralischer Insolvenz. Mehr als ein Geschäft mit einer eigenen Währung ist dann von der Europäischen Gemeinschaft nicht mehr übrig. Ein Einwanderungsgesetz, welches als das neue Heilmittel angepriesen wird, löst weder das Elendsproblem noch das Flüchtlingsproblem. Es bietet Rettung nur für die Qualifizierten und raubt den armen Herkunftsländern zusätzlich die letzten Einheimischen, die sie wieder aufbauen könnten.

      Wir, die Bewohner der Wohlstandsinsel Europa, sind die Hehler und Stehler des Reichtums der sogenannten Dritten Welt. Auf deren Kosten und Knochen haben wir uns bereichert. Die Bodenschätze Afrikas haben wir ausgeraubt. Westliche Agrarkonzerne kaufen ganze Landstriche auf und entwurzeln so eine jahrhundertealte Subsistenzkultur, die ihre Menschen ernährte. Landflächen, so groß wie halb Europa, sollen sich bereits im Besitz westlicher Agrarkonzerne befinden. Die Spekulation mit Ackerboden verspricht hohe Rendite; Nahrung wird Aktie.

      Nestlé, Danone und Konsorten mitsamt anderen globalen Wassersaugern legen das Land trocken, indem sie einheimische Quellen aufkaufen und ausnutzen, um profitsichere Monopole aufzubauen, die in den kommenden Zeiten der Wasserknappheit zu westlichen Geldmaschinen mutieren sollen. Die Erste Welt zerstört die Dritte und wundert sich, dass die Zerstörten sich auf den Weg zu den Zerstörern machen.

      Freilich, der Westen ist nicht der Alleinschuldige am Elend. Die neuen Herrscher haben sich viel von den alten abgeschaut. Die neokolonialen Eliten scheffeln das Geld in die eigene Tasche, leben in Saus und Braus, während ihr Volk darbt. Sie kennen Ausbeutung noch besser als die alten Kolonialherren, die sie abgelöst haben. Korruption wird zum Geschäftsmodell. Doch zur Korruption gehören mindestens zwei: einer, der sich bestechen lässt, und einer, der besticht. Die Bestochenen sitzen in Afrika, die Bestecher im Westen. Die Ausbeuter tragen Firmennamen mit hoher Reputation, topfite und gestylte Manager gelten in der neuen und alten Welt als bewunderte Leitfiguren. Diese Herren sind ausgestattet mit Jahreseinkommen, von denen ganze Dörfer in Afrika leben könnten.

      Wer sich nur einen Funken menschlichen Mitleids bewahrt hat, kann über die Flüchtlinge nicht so kaltherzig schwadronieren, wie es in der übergroßen Koalition zwischen altem Stammtisch und neuem rechten Establishment gang und gäbe ist. Wer sich ihre großspurigen Reden anhört, gewinnt den Eindruck, als handele es sich bei den Flüchtlingen um vergnügte „Nassauer“, die uns auszunutzen versuchen. Doch wer sich an nordafrikanischen Ufern in die Schlauchboote begibt, muss viel erlitten haben, um das Risiko einzugehen, im Mittelmeer zu ersaufen.

      Mariam meint:

      Interessanterweise gibt es einen Akteur, der in den Schuldzuweisungen der Aktivisten nie vorkommt: die afrikanischen Regierungen. Ist es wirklich nur der Postkolonialismus, der die Menschen zu Tausenden aus einem eigentlich reichen Land wie Nigeria treibt?

  4. „Diese fragwürdige Kausalkette geht nicht nur davon aus, dass die Bewohner ehemaliger Kolonien für nichts verantwortlich sein können – nicht mal für ihr eigenes Unglück –, sondern sie geht auch mit einer gewaltigen Selbstüberhöhung einher: Manche Seenotretter vergleichen sich unerschrocken mit den Fluchthelfern der DDR oder gar mit jenen, die im Zweiten Weltkrieg Juden gerettet haben.“ (aus dem Artikel von Frau Lau)

    U.a. im Punk-Fanzine „Plastic Bomb“ (Print) ist seit einigen Ausgaben regelmäßig ein Bericht von Leuten, die auf der „Seawatch“ sind/waren. Also nix „ich bin mal zwei Wochen mitgeschippert und hab den Aktivisten blöde Fragen gestellt“ sondern eher Beschreibung der Ohnmacht. Selbstüberhöhung las ich weder da noch in Blogs von Aktivist*innen. Der Vergleich ist legitim!

    Und mal am Rande; wenn ein Journalist in der Print-Ausgabe auf ne Quelle hinweist (also die ominöse NYT-Graphik), muß sie*er auch die Ausgabe nennen, die Zeitung erscheint an mehr als 300 Tagen pro Annum, im www kann und muß dann auch ein Link hinterlegt werden…

    1. Christian Jakob kommentiert in der taz drei Punkte aus Laus Contra-NGO-Seenotrettung, auf die ich im Blog gar nicht eingegangen bin:

      Zu denen, die findet, man sollte es lassen, gehört die Zeit-Redakteurin Mariam Lau. Vor einem Jahr fuhr die als Reporterin auf dem Schiff Sea Eye mit. Es gehe ja nicht darum sterben zu lassen, breitete Lau am Donnerstag ihre Überlegungen aus. Nur sollen eben nicht die privaten Helfer retten, sondern die EU-Grenzschutzagentur Frontex.

      Ihr wird nicht entgangen sein, dass Frontex genau das nicht getan hat. Zu dem Zeitpunkt, 2015, als die privaten Seenotretter auf den Plan traten, waren bereits über 20.000 Menschen gestorben. Sie sind nicht deswegen ertrunken, weil es so schwierig gewesen wäre, sie zu finden. Oder weil es nicht genug Rettungsschiffe gegeben hätte. Sie sind heute tot, weil die unzureichende Hilfeleistung politisch gewollt war. Sie war Teil eines Abschreckungskalküls.

      Frontex hat für diese Erwägungen – weniger retten, nur weiter weg von der libyschen Küste damit weniger kommen – aktiv bei europäischen Politikern geworben. Und Gehör gefunden. Das liegt vor allem daran, dass Frontex dafür da ist, dass die, die nicht kommen sollen, auch wirklich nicht kommen.

      Lau ist der Meinung, dass die AktivistInnen zur Lösung des Flüchtlingsproblems „null und nichts beizutragen“ haben. Dabei sind sie es, die die Folgen des Abschreckungskalküls überhaupt erst sichtbar gemacht haben. Den Zahlen Gesichter gaben, ihre Geschichten erzählbar werden ließen. Zum Beispiel, in dem sie Reporterinnen wie Lau auf ihren Schiffen mitfahren ließen.

      Als die Initiativen, die nun so unter Druck geraten sind, anfingen, wollten sie zunächst gar nicht retten. Sie wollten den staatlichen Rettern auf die Finger schauen, weil diese ihre Aufgabe eben nicht erfüllt haben. Gruppen wie Boats4People oder WatchtheMed verstanden sich wie eine Art „Bürger beobachten ihre Polizei“, nur eben auf dem Meer. Dass sie selbst retten, das kam erst später. Weil die, die es tun sollten, es nicht taten.

      Die NGOs begründeten ihr Handeln damit, „dass jeder Mensch das Recht habe zu fliehen, wohin er will“, schreibt Lau. So ein Recht gebe es aber nicht. Es gibt aber ein Recht, und das weiß auch Lau, dahin zu fliehen, wo man nicht versklavt und nicht interniert wird, nicht in Geiselhaft landet – wie etwa in Libyen. An einen sicheren Ort. Und das ist eben Europa, auch wenn ihr das nicht gefällt, und zwar so lange, wie es hier ein Asylrecht gibt.

      Als sie zwei Wochen lang auf der Sea Eye mitfuhr, habe keiner der Helfer „auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie die sozialdemokratische Regierung von Matteo Renzi ihren Bürgern erklären soll, dass sie Tausende von Menschen einkleiden, beherbergen und ernähren sollen“.

      Dabei haben die NGOs auf genau dieses Dilemma Italiens immer und immer wieder hingewiesen. Sie wussten genau, dass die Regierung dies kaum erklären kann und dass es deswegen eine europäische Lösung geben musste. Die gab es aber nicht. Das einzige, worauf die EU sich heute noch einigen kann, sind Lager und Abweisung. Die Schuld der NGOs ist das am allerwenigsten.

      1. Jo, hatt ich vorhin vergessen zu verlinken; gestern gelesen. Mensch könnte sich ganz naiv auch mal die Frage stellen, warum die Schiffe „Seawatch“ und „Seaeye“ heißen und ned „Searescue“ o.ä. …

        1. In der taz gibt’s noch einen lesenswerten Kommentar, von Bernd Pickert – Die schleichende Selbstaufgabe

          Über die Retter, schreibt Lau, und das ist als schärfste Kritik gemeint: „Ihr Verständnis von Menschenrechten ist absolut kompromisslos.“

          Die Denkfigur, die hinter diesem Satz steht, hat Lau offenbar von John Dalhuisen übernommen, bis vor Kurzem noch Europa-Direktor von Amnesty International. Er hat die Organisation inzwischen verlassen – weil sie ihm zu kompromisslos ist.

          Beeindruckt von den rechten Wahlerfolgen und gesteuerten Kommentarlawinen im Netz, wird postuliert, es sei schlicht nicht möglich, alle Menschenrechte zu verteidigen, weil das der Mehrheit nicht vermittelbar sei. Deshalb müsse man einige Rechte – und zwar die der Geflüchteten – eben opfern, um den Großteil – also die eigenen – zu schützen.

          Denn, so erklärt es Dalhuisen: „Niemand sollte annehmen, internationale Menschenrechtskonventionen seien unabänderlich. Sie sind veränderbar und werden verändert werden, wenn eine Mehrheit das will.“

          Das gilt aber nur dann, wenn diejenigen, die das Konzept der Menschenrechte verstehen, gar nicht mehr den Versuch der Verteidigung und Erklärung unternehmen, sondern dem Stammtisch hinterherlaufen. Auf die Seenotrettung übertragen: Glaubt wirklich irgendjemand, dass die neue völkische Rechte ihre rassistische Offensive aufgibt, wenn Europa die Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt?

          Glaubt jemand, dass es der verbliebenen demokratischen Mehrheit in Deutschland und Europa leichter fällt, den gesellschaftlichen Konsens gegen rechts zu verteidigen, wenn die eigenen Regierungen die elementarsten Selbstverständlichkeiten über den Haufen werfen? Wenn Demokratie und Rechtsstaat das tun, gewinnt die Rechte kampflos.

  5. Was soll ich von einer Frau halten die für ihrer inhumanen Haltung frenetisch von der Jungen Freiheit (kein Link von mir) gefeiert wird?
    Genau, nix!
    Stichworte: „linksliberales Milieu“ im Zusammenhang mit…gähn…“Gesinnungstaliban“…

    1. Hm, man muß sich nicht mal die junge Freiheit nehmen, es reicht auch schon die Neue Zürcher Zeitung (die ich mal gern gelesen habe, u.a. wegen ihrer Auslandskorrespondenten wie z.B. Monika Bolliger) – Wem helfen die Retter im Mittelmeer? Den Schleppern oder den Flüchtlingen? Schon die Frage zu stellen, reicht, um einen Aufschrei auszulösen

      «Die Zeit» ist ein Medium, das sein linksliberales Publikum in der Regel genau dort abholt, wo es weltanschaulich zu Hause ist. Doch hin und wieder überkommt die Redaktion so etwas wie Mut vor der eigenen Gesinnung, und sie veröffentlicht einen Text, der anders ist. … Allerdings hat «Die Zeit» die Rechnung ohne das ihr nahestehende Milieu gemacht. Die Ausgabe war kaum auf dem Markt, da ging schon ein Aufschrei durchs Netz. Er galt nicht überwiegend, sondern einzig und allein der NGO-kritischen Haltung der Redaktorin Mariam Lau. Hier ein paar Beispiele:

      «Das ist das Ende der Übereinkunft darüber, was wir bislang für Zivilität hielten.» (Carolin Emcke, Publizistin)
      «Absoluter Wahnsinn.» (Igor Levit, Pianist)
      «OMG.» (Katrin Göring-Eckardt, Fraktionschefin der Grünen im Bundestag)
      «Ich bin erschüttert, wie leicht unsere Zivilisation bricht.» (Jakob Augstein, «Spiegel»-Gesellschafter)
      «Ihr habt doch den Arsch offen.» (Hannah Beitzer, «Süddeutsche Zeitung»)
      «Was für ein kalter, verdorbener Wahnsinn.» (Margarete Stokowski, «Spiegel»-Kolumnistin)

      Ob der Chor der Empörten den Text der Kollegin Lau gelesen hat? Der Verdacht liegt nahe, dass viele schon nach der Lektüre der Überschrift in eine Art Erregungsstarre verfallen sind und sofort losgetwittert haben.

      Hannah Beitzer hat übrigens noch ein paar Worte zum „Arsch“ geschrieben:

      Einige andere kritisieren meine Wortwahl. Man müsse das ganze doch höflich diskutieren. Da muss ich klar sagen: Leute, die „Arsch“ für eine Grenzverschiebung halten, aber gleichzeitig höflich die Relativierung von Menschenrechten diskutieren möchten, verstehe ich nicht. Vielleicht fehlt mir dafür die hanseatische Erziehung.

      An dieser Stelle möchte ich aber auch sagen, dass ich niemals einen Menschen bedrohen oder ihm den Tod wünschen würde, egal, ob im Scherz oder im Ernst. Ich möchte auch nicht die Zeit vom Diskurs ausschließen, nicht nur, weil ich so viele ihrer Autor*innen schätze. Dass jede (harsche) Kritik gleich in diese Richtung gedreht wird, ist aber leider eine altbekannte Dynamik, die allzu oft von eigenen Fehlern ablenken soll.

      Damit bin ich bei meinem nächsten Punkt. Lasst mich Euch auch erzählen, wie es mir die letzten Wochen und Monate ging: Ich war oft genug sprachlos, fassungslos ob der immer neuen Tabubrüche und Grenzverschiebungen auch in geschätzten Medien. Im Falle der Zeit möchte ich nur den #metoo-Artikel von Jens Jessen erwähnen. Was mich gelähmt hat, war der Gedanke: Das sind alles gezielte Provokationen. Wenn ich jetzt wütend darauf reagiere, tue ich genau das, was sie wollen. Und liefere ihnen Stoff für die nächste Geschichte à la: „Die Linke“ ist hysterisch, kann keine sachlichen Diskussionen mehr ertragen, schottet sich ab und ist eigentlich Schuld an dem Graben, der sich in der Gesellschaft auftut. So ist es ja auch diesmal wieder, wo angeblich „die flüchtlingsfreundliche Gemeinde“ in den Kampf zieht und damit den sachlichen Diskurs verhindere.

      Aber wisst Ihr was? Ich ertrage es nicht mehr zu schweigen, ich ertrage es nicht mehr, jeder neuen Ungeheuerlichkeit mit Ironie oder Sarkasmus zu begegnen, um ja nicht uncool oder dogmatisch zu erscheinen, um die Kommunikationskanäle offen zu halten zu jenen, deren giftige Gedanken immer weiter in die Gesellschaft sickern.

      Verzeiht mir, dass ich ein bisschen pathetisch werde. Aber ich will meinen Kindern später nicht sagen müssen: Als die Rechten den Diskurs übernahmen, hab ich mich nicht provozieren lassen, war ich immer höflich. Weil ich glaube, dass das nicht genügt. Und bevor das jemand fragt: Natürlich ist bei uns zuhause „Arsch“ nicht der normale Umgangston. Aber mir ist es tausendmal lieber, meine Tochter wird zu einem Menschen, der zur richtigen Zeit laut und deutlich „Arsch“ sagt, als zu einem Menschen, der nur stumm zuguckt. Oder, noch schlimmer, zu einem Menschen, der angesichts ertrinkender Menschen von einem „moralischen Zwischenreich“ spricht, oder denkt, eine achselzuckend-zynische Überschrift wie „Oder soll man es lassen?“ würde irgendwie zum sachlichen Diskurs anregen.

      Sign.

  6. Der Kommentar in der nzz geht mit der Mär vom „unaussprechlichen sprechen“ (wobei die Hater schon seit Jahren aus allen Kanälen gröhlen) und dem „wohl noch sagen dürfen“, aka „realistischen“, hausieren.
    Wissen Sie was meine beiden hassenswertesten Unwörter sind? Das sind „Denkverbot(e)“ und „Tabubrecher/in“, da kotze ich so im Strahl.

  7. Am Rande des Themas, aber extrem lesenswert – Fintan O’Toole, Irish Times – Trial runs for fascism are in full flow. Babies in cages were no ‘mistake’ by Trump but test-marketing for barbarism
    Als Test-marketing für Barbarei muß man nicht nur die regelmäßigen Tabubrüche der Seehofers, Söders, Weidels, von Storchs, Gaulands, Höckes verstehen, sondern schon auch, daß/was Mariam Lau in Die Zeit meint.

    To grasp what is going on in the world right now, we need to reflect on two things. One is that we are in a phase of trial runs. The other is that what is being trialled is fascism – a word that should be used carefully but not shirked when it is so clearly on the horizon. Forget “post-fascist” – what we are living with is pre-fascism.

    Die Zeit bemüht sich (ein bißchen) um’s Kriegen der Kurve, nachdem man offenbar bemerkte, daß nicht nur einige Leser ihre Zeit-Abonnements nicht mit ihrer Ethik überein bringen konnten und erstere gekündigt haben, Christian Bangel – Gibt es falsche Fragen?

    Als seien ethische Standards nicht selbstverständlicher Teil einer Debatte, in der es um Menschenleben geht. Wer die Moral zugunsten vermeintlicher Objektivität auch nur kurz beiseiteschiebt, versachlicht nicht etwa das Gespräch, sondern entmenschlicht es. Er schafft eine Atmosphäre, in der die Menschenwürde nur dann einen Raum hat, wenn sie politisch opportun ist. …

    Wer diese Gefahr sieht, der wirft nicht ausgerechnet, wie Mariam Lau, den wenigen Seenotrettern vor, das politische Klima zu vergiften. Der übernimmt nicht von der AfD das Bild vom unaufrichtigen Gutmenschen, dessen selbstsüchtiger moralischer Rigorismus auf Kosten aller anderen gehe. Der unterstellt nicht Menschen, die andere vor dem Ertrinken bewahren wollen, dass sie auch alle Grenzen öffnen wollen. Und der erhebt nicht den Vorwurf, die Retter hätten ein absolut kompromissloses Verständnis von Menschenrechten. Denn was sind Menschenrechte, wenn nicht ein kompromissloses Konzept, das immer und ausnahmslos für alle zu gelten hat? Oder reden wir in Wahrheit von Deutschenrechten? Allerhöchstens von Rechten für Europäer?

    Schon ein paar Tage her, aber nichtsdestotrotz aktuell: Thomas Stadler – Irrsinnig und menschenverachtend

    Was in der aktuellen öffentlichen Debatte aber immer zu kurz kommt, ist der Umstand, dass es am Ende um das Schicksal von Menschen geht. Nur leider erscheint die öffentliche Debatte von diesem Umstand gänzlich entkoppelt zu sein. Flüchtlinge werden als Asyltouristen diffamiert, so als sei es ein Abenteuerurlaub in ein Boot zu steigen, um auf dem Mittelmeer sein Leben zu riskieren, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa.

    An dieser Stelle sollten wir innehalten, über Werte sprechen und vor allem stärker auf die Schicksale derjenigen Menschen schauen, über die wir die ganze Zeit reden. Und zwar als Subjekte und nicht als Objekte, also anders als es die CSU tut. Denn das ist der Kern der Menschenwürde. Das Individuum darf nicht zum Objekt gemacht werden. Der Umstand, dass fortlaufend eine große Anzahl von Menschen im Mittelmeer ertrinken, ist derzeit aber bestenfalls noch eine Fußnote in der Berichterstattung und öffentlichen Diskussion. Das ist angesichts von 629 Toten allein im Juni 2018 nicht nur ein Problem der CSU, sondern eines der Berichterstattung und der öffentlichen Wahrnehmung. Der Debatte mangelt es an Empathie und Menschlichkeit. Und das spielt denjenigen in die Karten, die, wie die AfD und die CSU, die Debatte von den menschlichen Einzelfallschicksalen entkoppeln müssen, um ihre unmenschlichen Forderungen legitim erscheinen zu lassen. So hat rechte Rhetorik schon immer funktioniert.

    Matthias Schwarzer, Neue Westfälische – Spott über Abschiebungen und Suizide: Ihr widert mich an

    Nur, dass wir das noch mal festgehalten haben, bevor es endgültig zu spät ist: Wer sich über den Tod eines Menschen freut, ist ein Arschloch. Wer die NSU-Morde mit brennenden Autos beim G20-Gipfel vergleicht, als wäre ein VW Golf dasselbe wie eines dieser Opfer, der ist ein Arschloch. Wer ernsthaft darüber diskutiert, ob man ertrinkenden Menschen überhaupt helfen sollte, ja, auch der ist ein unfassbar riesiges Arschloch.

  8. „Gibt es falsche Fragen?“
    Das war die (online) Pro/Contra-Frage: „Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim?“
    In nem Debattierclub wäre wohl die Pro-Antwort ne 4-, die Contra-Antwort Thema verfehlt.

    „In Seenot Geratene sind hilfsbedürftig“ als Argument müsste sowohl bei „Pro“ als auch bei „Contra“ auftauchen, und da isses egal, ob die nun in der Adria auf der Luftmatratze eingepennt oder aus anderen Gründen mit anderen nichtgeeigneten Fahrzeugen auf hoher See unterwegs sind. Bei „Pro“ fehlt z.B. daß auch die deutsche Seenotrettung privat ist (https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Gesellschaft_zur_Rettung_Schiffbr%C3%BCchiger) und die im Mittelmeer quasi legitimiert werden müsste; bei „Contra“ kann mensch mit der speziellen Situation argumentieren und ne von der EU organisierte und durchzuführende Seenotrettung fordern. Da ist meinetwegen auch das Argument mit der Küstenwache afrikanischer Staaten erlaubt, nur erledigt sich das bei failed states wie Libyen (und Tunesien?!?, liegt näher an den italienischen Inseln) selber.

    Ich hab keine 150 Worte für Pro UND Contra gebraucht, Frau Lobenstein und Frau Lau die Frage nicht hinterfragt (Betriebsblindheit?!?) und Zeilen geschunden…

    1. Am besten wird wohl sein, Sie schlagen Ihre umgehende Anstellung bei Die Zeit vor.

      Die ursprüngliche Frage online sah übrigens so aus. Später wurde daraus „Private Helfer retten … Oder lassen wir das?“ und noch später das von Ihnen zitierte „Ist das legitim?„.

      1. Als Chef vom Debattierclub? Kommt drauf an was die zahlen haha…
        Rumbasteln an Überschriften ist auf Jeden unprofessionell.

      1. Ich lese fleißig und gerne hier mit ;) Tatsächlich fühle ich mich selten befugt, zu kommentieren. Außer Ihnen zuzustimmen und danke zu sagen für die Mühe, die in Ihren Texten steckt.

        Seit DGSVO können manche bei mir nur noch anonym kommentieren, aber wenn Sie DvW drunter schreiben, weiß ich ja, dass Sie es sind.

      2. „leider bin ich ja zum Kommentieren Ihres Blogs zu blöd“

        So als Tip am Rande: Ähnliche Probleme hatte ich bei anderen Google-betriebenen Blogs ebenfalls wie bei den „Fliegenden Brettern“.

        Eine Krücke ist es, in den Antwort-Frame einen Rechtsklick zu machen, diesen dann in einem neuen Tab /Fenster zu öffnen und dort zu schreiben. Leider müssen bei Verwenden von Scriptblockern die Skripte von Google inklusive gstatic (sonst kommt die Bot-Abfrage nicht) und die des eigentlichen Blogs freigegeben werden – Daten sind halt Geld, aber so klappt zumindest bei mir das Absenden der Beiträge:-(

        Wenn im Absendefeld das Google-Konto nicht funktioniert, so man denn eines besitzt, dann bleibt nur die Auswahl Name/URL und das läuft in der Regel auch nur mit dem Namen.

        Testen Sie das mal so an und Annika wird sicher im Zweifel den Beitrag auch wieder löschen, falls es nur dem Testen selber dient;-)

        1. Haha, höchstwahrscheinlich bin ich doch nicht zu blöd, sondern die frühere WordPress-Blogspot-Verbindung war ein Scheiß. Nachdem die aber ohnehin entfallen ist (vermutlich im Rahmen der DSGVO), kommentiere ich bei Annika ab jetzt anonym und schreibe dann eben meinen Nick darunter. Danke für Ihre Tips!

  9. Und noch ein bißchen Lese:
    Dietmar Dath, FAZ – Feuer und Wasser

    Wer den Median der Kritik an Berlin und Brüssel aber dahin verschiebt, dass „man“ Nothilfe „lassen kann“, privat oder staatlich, also Leben und Tod zu Fragen der Güterabwägung macht, darf sich nicht wundern, wenn später die „eigenen“ Kinder, Alten, Kranken und andere … Verhandlungsmasse werden. Wo es keine Fragen gibt, die „man“ nicht stellt, ist niemand sicher vor dem Schlimmsten (das nicht einmal der Tod sein muss). Deshalb gebietet nicht Moral, sondern der Wunsch, selbst Rechte zu genießen, dass man bestimmte Fragen nicht toleriert. Man verbittet sich das Reden übers Ertrinken- und Verbrennenlassen, wenn man nicht ertrinken und nicht verbrennen will. Jeder andere Streit soll und muss sein.

    Klaus-Dieter Altmeppen ärgert sich im Interview mit Nicole Dittmer, dradio über Die Zeit/Mariam Lau – „Es ist eine Frage von Humanität und Menschenwürde, Leben zu retten“

    Doch hier nun mit Narrativen statt mit Fakten zu arbeiten, sei der Sache und der Debatte überhaupt nicht dienlich.

    Hören Sie sich den Beitrag an, lohnt.

    Tomasz Konicz, Telepolis – „Absaufen!“ – Pro und Contra (links nicht eingepflegt)

    Die Hetzrede eines Redners gegen die Dresdner Hilfsorganisation Mission Lifeline („Schlepper-Organisation“), deren Rettungsschiff sich zu jenem Zeitpunkt mit hunderten Flüchtlingen auf einer Irrfahrt durch das abgeschottete Mittelmeer befand, wurde von den Anwesenden mit wütenden Parolen angefacht: „Absaufen! Absaufen! Absaufen!“.

    Damit forderten die versammelten Pegida-Nazis explizit eben das, was Faschismus nicht zu einer Meinung, sondern zu einem Verbrechen macht: den Mord an Menschen. Die Masken fallen, es ist absolut evident, worauf die durch die Neue Rechte forcierte Verrohung und Barbarisierung des öffentlichen Diskurses in der Bundesrepublik hinausläuft: Das „Absaufenlassen“ von Menschen im Mittelmeer, den Mord durch unterlassene Hilfeleistung, nicht nur still hinzunehmen, sondern als neue Normalität bewusst zu akzeptieren. Es ist die blanke, klar zutage tretende Logik der Barbarei.

    Dennoch stellt sich auch bei diesem rechten Zivilisationsbruch nur noch die Frage, wann er auch im Mainstream der Bundesrepublik diskutiert werden wird. Wann werden diese berechtigten „Sorgen und Ängste“ des versammelten braunen Hassmobs auch wirklich ernst genommen von Deutschlands Politeliten und Meinungsmachern?

    Allein schon der Auflage und der Zugriffszahlen wegen! Konkret: Wie lange braucht es, bis die Vernichtungsphantasien der versammelten Dresdner Rechten es bis in die Redaktionsstuben ihrer „Lügenpresse“ schaffen (Die Lügenpresse und ihre Lügenfressen)?

    Die Frage kann nach dem aktuellen Skandal um „mutige Tabubrüche“ in der bieder-bürgerlichen Wochenzeitung „Die Zeit“ klar beantwortet werden. Inzwischen sind es weniger als vier Wochen. Der Vernichtungswunsch nach dem „Absaufen!“ braucht weniger als einen Monat, um von der braunen sächsischen Gosse in die piekfeinen Hamburger Redaktionsräume zu diffundieren.

    Wenn die braunen Parolen einem bürgerlichen Schonwaschgang unterzogen werden, dann sieht das folgendermaßen aus: „Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim? Ein Pro und Contra.“ Die Ausgabe der Zeit trug auch den Titel „Sei mutig“. Man wird ja wohl noch fragen dürfen!

    Die Zeitredaktion selber ging übrigens in die übliche Opferpose über, die seit der Sarrazin-Debatte charakteristisch ist für die „Tabubrecher“ der Neuen Rechten, die sich nach jeder barbarischen Provokation als die verfolgte Unschuld gebärden. Nachdem er die Legitimität des „Absaufen!“-Lassens in einem „mutigen“ Pro und Contra diskutieren ließ, jammerte Bernd Ulrich, Politik-Chef und Vize-Chefredakteur der Zeit, er habe am eigenen Leibe erfahren müssen, wie es sei, wenn die „flüchtlingsfreundliche Gemeinde“ ins Gefecht ziehe.

    Um den zivilisatorischen Mindeststandard, Menschen in Not zu retten, sie nicht gezielt verrecken zu lassen, als Ausdruck von Zugehörigkeit zu einer „flüchtlingsfreundlichen Gemeinde“ zu interpretierten, muss sich in Herrn Ulrich Hirn schon die Pegida-Logik durchgesetzt haben. Der Rechtsextremismus mit seinem Fluchtpunkt im offenen faschistischen Terror ist ein Extremismus der Mitte. „Absaufen!“ Das ist es, was vom deutschen Bürger übrig bleibt, wenn ihm in Krisenzeiten der Arsch auf Grundeis geht – ein brauner Würger.

    Die krisenbedingte Transformation rechtsextremer Ideen in breit akzeptierte Gewissheiten der bürgerlichen Mitte erlebte mit der Debatte um die Nahrungsvergabe an Flüchtlinge bei den sogenannten Tafeln ihren ersten großen Durchbruch.

    Die Leitung einer Essener Tafel hat sich im Februar entschlossen, keine Ausländer mehr aufzunehmen, da die abgelaufenen Lebensmittel, die in der Einrichtung verteilt würden, nicht für alle Bedürftigen ausreichten. Diese kontroverse Entscheidung, die auch international Schlagzeilen, hat ihre Logik der Ausgrenzung eindeutig der völkischen Praxis der extremen Rechten entnommen.

    Während Nazis gegen Flüchtlinge hetzen, die gemeinsam mit verarmten Bundesbürgern Lebensmittelreste verteilt bekommen, werden jährlich allein in Deutschland zwischen elf und 18 Millionen Tonnen Lebensmittel auf dem Müll geworfen.

    Weltweit wird rund ein Drittel aller produzierten Lebensmittel „vernichtet oder verschwendet“, so die Chefin der Welthungerhilfe, Bärbel Dieckmann. …
    Nochmals: Jeder Tafel-Besucher könnte mit Lebensmitteln buchstäblich überschüttet werden, die derzeit nur deswegen vernichtet werden, weil für sie keine geldwerte Nachfrage herrscht in einem Wirtschaftssystem, das an der eigenen Produktivität zugrunde geht.

    Essensberge vergammeln – und die neuen und alten Nazis rufen dazu auf, Ausländer bei dem Kampf um die Essenskrümmel auszuschließen. Dies ist die barbarische Logik des Extremismus der Mitte, der die bestehende Gesellschaft trotz ihrer lethalen Krise nicht infrage stellen will und lieber die Krisenfolgen in den Krisenopfern, wie etwa Flüchtlingen, personifiziert. Die himmelschreienden Widersprüche der kapitalistischen Krise, die alljährlich nicht nur Millionen Tonnen an Lebensmitteln vernichtet, verschwinden so hinter der Hetze gegen Flüchtlinge und Ausländer.

    Bei MEEDIA gibt’s eine knappe Zusammenfassung der unterschiedlichen Positionen zu Laus Meinung, bei Vice die Gründe, warum Seenotretter die Menschen nicht einfach zurück nach Libyen bringen und beim Bildblog wird der Mythos entzaubert, es hätte Morddrohungen gegen Mariam Lau/Journalisten gegeben – was das aktuelle Niveau der Debatte umschreibt.

    (Rant gelöscht, da sowieso überflüssig, dvw)

  10. Und sonst so?
    Ralf Wohlleben wird heute das Gefängnis verlassen (weil keine Fluchtgefahr) und in Niederösterreich haben demnächst Juden, die Wert auf geschächtetes Fleisch legen, nachzuweisen, daß sie auch sonst koscher leben und sich in Listen einzutragen (von Muslimen, die halal geschlachtetes Fleisch essen, ist aus seltsamen Gründen nicht die Rede). Nein, ist kein Scherz.

    1. Bei den Gesetzen gegen das Schächten gehts nie um das, was die vorgeben sich zu kümmern, nämlich ums Tierwohl.
      Da reicht als kurzer Überblick auch der wikipedia-Artikel (https://de.wikipedia.org/wiki/Sch%C3%A4chten)
      Zitat: „Bayern
      Der Bayerische Landtag verabschiedete am 29. Januar 1930 ein „Gesetz über das Schlachten von Tieren“, das das Schächten von Rindern, Schweinen, Schafen, Ziegen, Pferden, Eseln, Maultieren, Mauleseln und Hunden nur nach vollständiger Betäubung zulässt. Laut Gesetz kann die Betäubung durch mechanische Apparate oder mittels Kopfschlags vorgenommen werden. Zuwiderhandlungen wurden mit Geldstrafen oder mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bestraft.[13] Das Schächtverbot gilt als die erste antisemitisch motivierte Verletzung der Rechtsgleichheit von Juden, lange vor dem Aufkommen des NS-Regimes.[14]“
      „Die Tierschutzbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland sah Tierversuche und Schächtung als Ausdruck einer „jüdischen“ Medizin und stellte diese in direkte Verbindung zueinander. Das Strafgesetzbuch von 1871 bestrafte nicht die Tiermisshandlung als solche, sondern nur – so vorhanden – öffentliches Ärgernis daran und war deutlich schwächer als etwa die englischen Tierschutzregelungen.[21] Dagegen liefen die in erheblichem Maße rechtsgerichteten bzw. antisemitisch orientierten Tierschutzvereine erfolglos Sturm.“
      Kosher beim Fleisch bezieht sich auch auf die Haltung, so ne koshere Kuh hat vermutlich das, was so als „artgerechtes Leben“ bezeichnet wird (daß das domestiziert ned geht und keiner die Kuh fragt, was die so unter „artgerecht“ versteht, würde jetzt zu weit führen…).
      „Rituell“ im Zusammenhang mit dem Schächten ist auch Blödsinn, weil das Tier wird ja nicht irgendwem geopfert oder wie in der katholischen Kirche die Hostie und der Wein quasi umgewandelt in seinem Wesen.
      Ich persönlich finde davon mal ab das Schächten mit den Vorschriften, die strenger überwacht werden als in jedem Massentierhaltungsstall incl. Schlachtung, auch nicht als den Gottseibeiuns.

      Und mal am Rande; jedes auf der Jagd angeschossene Tier („erschossen“ werden da die wenigsten) hat einen langen Todeskampf, komischerweise werden sich wohl die Jagdbefürworter am meisten die Hände reiben, wenns ums Schächtverbot geht…

  11. Bei Die Zeit/Zeitonline wird’s langsam ein bißchen albern mit der Imagepflege – Gut gemeint, aber nicht gut genug

    Letzte Woche veröffentlichten wir eine Seite 3 zum Für und Wider privater Seenotrettung. Die Idee war entstanden, weil dies in Italien und Österreich ein zentrales Streitthema ist. Der Vorwurf wird beileibe nicht nur von den dort mitregierenden rechtsnationalen Parteien erhoben: Die privaten Helfer würden trotz bester Absichten das zynische Geschäft der Schlepper befördern. Dieser Frage wollten auch wir uns annehmen – denn politische Diskussionen und moralische Dilemmata verschwinden nicht dadurch, dass man die Augen vor ihnen verschließt. Wir hatten es also gut gemeint – was aber bekanntlich oft das Gegenteil von gut ist.

    Tatsächlich vertritt niemand in der ZEIT – auch nicht die Autorin des Contra-Artikels – die Auffassung, dass man Menschen ertrinken lassen sollte, um andere abzuschrecken. Solche Art inhumaner Logik lehnen wir ab. Dass ein anderer Eindruck entstehen konnte, tut uns von Herzen leid.

    Schließlich kam im Contra-Text von Mariam Lau nicht genug zum Ausdruck, dass wir – auch die Autorin – großen Respekt haben vor jenen, die ihre Freizeit und ihr Geld einsetzen, um auf dem Mittelmeer Menschen in Not zu retten, und sich dabei mitunter selbst in Gefahr bringen. Unabhängig davon, aus welcher Motivation und mit welchem Weltbild die Retter handeln, sind sie erst einmal zu bewundern. Was nicht bedeutet, dass die politischen Folgen ihres humanitären Handelns nicht auch kritisch gesehen werden können.

    Was haben wir gelernt? Das Jahrhundertthema Flucht setzt Europa unter hohen moralischen und politischen Druck, es fordert auch unseren Journalismus ungemein. Wir haben uns vorgenommen, es in Zukunft wieder besser zu machen.

    Die ZEIT-Chefredaktion

    Dann kann man sich jetzt bestimmt auf bestens belegte, prominent platzierte Artikel über den Zusammenhang von Schlepperwesen und Festung Europa freuen, die in Die Zeit bisher Mangelware sind (denn nicht die NGOs kollaborieren mit Schleppern, sondern die Idee, man könne Flucht/Migration mit militärischen Mitteln und der Aufrüstung von Failed States, Diktatoren, Kleptokraten aufhalten, kann nur als ambitioniertes Schlepperkonjunkturprogramm verstanden werden). Für den lautstarken, AfD-affinen Teil des Zeit-Online-Kommentariats wäre auch eine leicht verständliche Darlegung der Rechtslage nötig – um u.a. die xfach geäußerte Forderung, NGOs/italienische Küstenwache/Handelsschiffe/alle hätten aus Seenot Gerettete *im nächsten Hafen* in Libyen oder sonstwo in Nordafrika auszuschiffen, zu entkräften.
    Jaja, war ein Scherz.

  12. Thomas Knüwer – „Die Zeit“ öffnet das Overton-Fenster

    Natürlich ist es legitim, über die Folgen der Seenotrettung zu debattieren und über Schlepper, die angeblich dies als Geschäftsmodell begreifen. Doch solche Modelle sind ja nicht neu, sondern gehören zum Zynismus einer Krise. Auch rund um die flüchtenden Juden hatte sich einst solch eine „Branche“ aufgebaut, unter anderem verewigt in „Casablanca“. Doch wer dieses Thema als Pro und Contra anlegt, der erhebt die Contra-Meinung auf die Stufe der gesellschaftlichen Akzeptanz. Und das hätte Gräfin Dönhoff nicht zugelassen. Sie verließ „Die Zeit“ zwischenzeitlich, weil das Blatt Texte eines NS-Staatsrechtlers veröffentlichte.

    Dieses Verweigern gegenüber der Veröffentlichung jedweder möglichen Denkweise eines Themas nennt man Haltung. Rechte Kreise versuchen auch hier das Overton-Fenster zu verschieben. Sie bezeichnen es als „Zensur“ oder „Denkverbot“, wenn hetzerische Texte nicht veröffentlicht werden und bereiten damit der Idee einen Boden, dass auch extreme Meinungen Raum bekommen dürfen. Motto: „Das wird man doch mal andenken dürfen.“ … Solche Meinungen dürfen gern im Hallraum der rechten Filterblase, von Tichys Einblick bis Kopp-Verlag versanden. Wer ihnen Raum gibt, der macht sie gesellschaftsfähig und unterstützt sie dadurch.

    So wie „Die Zeit“. Und dabei ist Laus Text keine Ausnahme.

    Schließlich gehört bei ihr der Kolumnist Harald Martenstein zum Inventar. Einst war er ein brillanter, witziger Schreiber. Heute ist Martenstein einer jener konservativen Autoren, die aus nicht nachvollziehbaren Gründen immer weiter nach rechts abdriften, bis sie zur Karikaturen ihrer selbst werden, so wie Matthias Matussek, Henryk Broder und Roland Tichy.

    Was tun? Wir brauchen wieder Haltung. Wir brauchen Chefredakteure, die nicht der Meinung sind, alles in Pros und Contras zu verwandeln, alles zuspitzen und gegen den Stachel löcken zu müssen, für die Provokation kein Wert an sich ist. Im Hause der „Zeit“ gibt es so jemanden, es ist Online-Chefredakteur Jochen Wegner. Obwohl, das stimmt nicht ganz: Er sitzt eben nicht am Speersort in Hamburg. Etliche Jahre vor seinem Amtsantritt ist die Redaktion von Zeit Online von Hamburg nach Berlin gezogen, es gibt Beteiligte, die dies noch heute als „Flucht“ bezeichnen, weil die Onliner keine Chance hatten, von den Printlern ernst genommen zu werden (aber das ist eine andere Geschichte).

    Natürlich helfen bei dieser Verschiebung andere viel kräftiger mit, allen voran Axel Springer. Doch ist „Die Zeit“ ein vielleicht wichtigerer Antreiber der Fensterverschiebung. Sie klappert hinterher und signalisiert so dem eher liberalen Bürgertum, dass es angemessen ist, Holocaust-Leugner zu unterstützen, Menschen ersaufen zu lassen und die AFD mutig zu nennen.

    Künftig, schreibt die „Die Zeit“-Chefredaktion ohne sich zu entschuldigen, will sie „es wieder“ bessermachen. Was „es“ ist, bleibt offen.

  13. Frank Stauss – Alles ist politisch. Auch das Schweigen (links nicht eingepflegt)

    … die Gegenwart braucht vielleicht gar keine zusätzliche Dramatisierung. Sie ist schon dramatisch genug und jedes Schweigen ein Statement.

    Das Schweigen der DAX-Vorstände und anderer prominenter Unternehmer, die zu feige und zu sehr in ihren Krämerseelen gefangen sind, um den Aufruf von Siemens-Chef Kaeser gegen die AfD zu unterstützen.

    Das Schweigen und die Feigheit der „Mannschaft“ und ihres Trainers, den offensichtlichen Rassismus der DFB-Spitze bei der „Aufarbeitung“ des WM-Desasters zu kommentieren.

    Das Schweigen vieler Kulturschaffenden, die sich zu fein sind, gegen Tellkamp, Safranski, Maron, Sloterdijk und die anderen intellektuellen Trittbrettfahrer der Neuen Rechten Stellung zu beziehen.

    … Sie mühen sich nun, dem Hass, der Ausgrenzung und der Sündenbockpolitik den philosophischen Unterbau nachzureichen. Oder sie nutzen die neue Verrohung, um sich schnell selbst aus der Schusslinie zu nehmen und andere in diese zu schubsen. Und zwar gerne die, die sowieso schon anders sind.

    Nein, es gibt nichts unpolitisches mehr im Alltag. Einem Alltag, in dem schon der Besitz von Kochbüchern Anlass zur Einordnung in „National“ oder „Antideutsch“ geben kann.

    In dem der Name eines Menschen Anlass zur anlasslosen Beschimpfung wird. Ein Alltag, in dem Hilfeleistende beschimpft oder gleich verhaftet werden.

    Es ist ein Alltag, der denen, die gegensteuern vorwirft, sie würden immer gleich die Nazikeule schwingen. Während die Nazis längst keulenschwingend durch die Straßen, Verbände, Parlamente und Feuilletons ziehen. Aber in welchem Land soll man denn mehr vor Nazis warnen, als in der Heimat der Nazis?

  14. Und noch ein bißchen Lese:
    Nils Markwardt – Festung aus Illusionen

    Haben Mauern eigentlich die Aufgabe, normativ ein klares Innen und Außen zu markieren, indem sie jene aussperren sollen, die nicht „unsere liberalen Werte“ teilen, so erzeugen sie psychopolitisch das Gegenteil: Sie dämonisieren und pauschalisieren das Außen, während sie im Inneren sukzessiv einen „homo munitus“ schaffen, den eingemauerten Menschen, der die Erosion ebendieser liberalen Werte verkörpert. Der eingemauerte Mensch, man denke an die Hochphase des Kalten Krieges, entwickelt eine Bunkermentalität, in der die geistige Militarisierung zum Bestandteil der zivilen Lebensform wird. Jene, die ihre Freiheit durch Selbsteinhegung schützen wollen, schaffen die Freiheit allmählich selbst ab.

    Dort, wo angeblich Recht wiederhergestellt werden soll, wird es häufig gleichzeitig unterlaufen – allein schon weil verschiedene Arten des Rechts, europäisch und national, zuweilen kollidieren. Wo von Sicherheitspolitikern „Ordnung“ versprochen wird, vollzieht sich die Institutionalisierung des Ausnahmezustands. Wo man liberale Werte beschwört, werden sie untergraben. Wo man Migration verhindern will, wird sie lediglich umgelenkt. Wo Schleuser bekämpft werden sollen, werden sie gefördert.

    Mukeba Muamba, Humanistischer Pressedienst – Seenotrettung auf dem Prüfstand

    Lau sieht die Lebensrettung vom Grundsatz „Not kennt kein Gebot“ getrieben, und bewertet diese Maxime als unterkomplex. Gleichzeitig kommen ihr keine Bedenken, den von ihr beschriebenen Zusammenhang felsenfest auf die Formel „Je mehr gerettet wird, desto mehr Boote kommen“ herunterzubrechen.

    Es ist auch richtig und wichtig, dass die Folgen von Rettungsaktionen bedacht werden, wie es Lau fordert. Doch tun das die Kritiker der Seenotretter in gebührender Weise, im Bezug auf ihre Kritik? Den Helfern wirft man mittlerweile gerne „Hypermoralismus“ und Maßlosigkeit vor. So empfinden es manche als ungeheuerlich, dass NGOs das Ertrinkenlassen von Geflüchteten als planmäßiges Abschreckunginstrument einstufen. Tatsächlich aber wurde auf Geheiß der EU ab 2014 die Operation „Mare Nostrum“ der italienischen Marine und Küstenwache zurückgefahren, bei der zuvor rund 150.000 Menschen gerettet werden konnten.

    Dass durch diese Maßnahme die Todeszahlen steigen würden, hatte die EU selbst vorhergesagt. Und so sollte es dann auch kommen: In der Folgezeit stieg die Anzahl der Toten im Mittelmeer drastisch. … Ob es sich dabei nun um „billigend in Kauf nehmen“, „bewusste Fahrlässigkeit“ oder „Planung“ handelt, ist schwer zu bestimmen. Denn die Grenzen sind durchaus fließend.

    Ein weiteres Problem besteht für Lau nun darin, dass sich Privatpersonen die Aufgaben des Staates aneignen würden. Zur Verdeutlichung führt sie ein Szenario an, mit dem sie die Seenotretter mit Bürgerwehren vergleicht: „Es gibt immer mehr Wohnungseinbrüche und Überfälle, die Polizei ist zu schlecht besetzt – warum nicht private Ordnungskräfte sich selbst einsetzen lassen?“

    Ja, warum nicht? Die Antwort ist naheliegend: Bei der Bürgewehr eignet sich der Bürger das Gewaltmonopol des Staates an und mancher übt dabei auch unzulässige Selbstjustiz aus. Nichts von dem geschieht aber bei der privaten Seenotrettung. Es gibt kein staatliches Monopol bei der Rettung von Menschen, gleichwohl aber das Prinzip, dass derjenige retten soll, der die Fähigkeit dazu besitzt. Die Pflicht, in einer Notlage zu helfen, ist ein allgemeines Rechtsprinzip und betrifft „jedermann“. Private Rettungsinitiativen übernehmen hier also nicht die Aufgabe des Staates, der er nicht nachkommen will. Der Ruf nach dem Arzt an der Unfallstelle „Ist ein Arzt anwesend?“ ist schließlich auch kein Ruf nach dem staatlichen Hoheitsträger.

    „Hypermoralisch“ wäre es, zu fordern, dass die Anreinerstaaten jeden Geretteten dauerhaft aufnehmen müssten – ungeachtet der individuellen und gesellschaftlichen Hintergründe und Konsequenzen. Wie soll man es aber nennen, wenn der Wert menschlichen Lebens im Furor der Vorwürfe plötzlich nur noch zu einem Lippenbekenntnis verkommt?

    Pauline Schmidt, all your sisters* – Muss man das aushalten? Ein offener Brief an die Zeit und die Journalistin Mariam Lau

    Liebe Frau Lau, schon der erste Satz Ihres Artikels ist inhaltlich falsch. Die Personen, die auf dem Mittelmeer gerettet werden, sind nicht auf der Suche nach einem „besseren Leben“, sie sind auf der Suche nach einer Grundlage zum bloßen Überleben.

    Sie verfolgen dann die These, dass reine Seenotrettung nicht zur Lösung dieser politischen Probleme beiträgt und ich möchte gerne mit der Frage antworten: Wer hat das eigentlich jemals behauptet? Mehr als die Hälfte unserer Arbeit bestand darin, andere Lösungsansätze zu suchen und die Politik zum Handeln aufzufordern.

    Was sich mir aber vor allem aufdrängt, ist die Frage, was Seenotretter eigentlich noch alles lösen sollen, während sie lebensrettende Erstversorgung leisten.

    Gewünscht hätte ich mir bei der Recherche zu Ihrem Text auch hier, dass Sie sich die Veröffentlichungen der NGOs selber, also die ganz offizielleren Stellungnahmen, ansehen, die immer und immer wieder betonen, dass Italien nicht alleine gelassen werden darf.

    Sprechen wir nun über Ihren Absatz zu Frontex. Frontex, liebe Frau Lau, ist ein Partner in unseren Einsätzen gewesen. Unsere NGO hat mit Frontex gesprochen, verhandelt und oftmals den Dialog gesucht. Wie Sie aber sicher wissen, handelt es sich um eine Grenzschutzagentur und selbige hat nicht das direkte Mandat aktiv und ausschließlich zu retten. Was das für Konsequenzen hat, was für Konsequenzen entstehen, durch den Rückzug von immer mehr EU-Schiffen, darüber hat die Zeit selber schon berichtet, als Jugend Rettet am Osterwochenende 2017 ein Mayday ausrufen musste, weil die Frontex-Beamten nicht mehr vor Ort waren. Liebe Frau Lau, das ist es, was kritisiert wird.

    Die freie Presse ist ein hohes Gut, es kommt aber auch mit einer Verantwortung einher, die ich innerhalb Ihres Artikels als verletzt sehe. Ich meine damit ausdrücklich, dass Kritik erlaubt ist. Sie zeichnen Ihre Kritik aber ausschließlich entlang einer Charakterisierung von Personen, die Sie nicht kennen. Ich vermisse den Blick auf Strukturen und darauf, was ihre Reichweite und ihr damit verbundener Einfluss für den Alltag der Menschen bedeuten, die Sie so hart aburteilen. Sie können und dürfen nicht dazu beitragen, dass Probleme, die zwei Kontinente betreffen, auf dem Rücken einer Gruppe von Ehrenamtlichen ausgetragen werden, die zeitgleich zu Ihrer Veröffentlichung mit dem Thema Kriminalisierung, unfassbarem rechtem Hass und Bedrohungen und der Schwere des Jobs an sich und den resultierenden emotionalen Konsequenzen kämpfen müssen. Es war mir wichtig, Ihnen das zu spiegeln. Die Debattenkultur in Deutschland kann und darf nicht solche Züge annehmen.

    Daniel Binswanger, Republik – Europas Tote

    Die Leichen trieben auf Holzplanken, die den Boden eines zerstörten Schlauchbootes gebildet hatten. Der Junge ist nach Aussage des Schiffsarztes kurz vor Eintreffen der Retter gestorben. Immerhin: Eine dritte Person konnte lebend geborgen werden. Es handelt sich um eine etwa vierzigjährige Frau aus Kamerun, die ihren Namen mit Josephine angibt. Sie war schwerst dehydriert, am Ende ihrer Kräfte, unter Schock. Laut Annalisa Camilli, einer italienischen Journalistin, die auf der Astral mitfährt, soll sie nur zwei Wörter ständig wiederholt haben: «Not Libya.»

    Momentan operieren nur noch zwei NGO-Schiffe vor der libyschen Küste. Letztes Jahr waren es zeitweilig 14. Die Sea-Watch 3, die Seefuchs und die Lifeline sitzen in Malta fest und werden von den Behörden unter verschiedenen Vorwänden am Auslaufen gehindert. Italien übt Druck aus auf den Inselstaat, die anderen Schengen/Dublin-Partner bleiben passiv.

    Gegen Claus-Peter Reisch, den Kapitän der Lifeline, der im Juni 234 Flüchtlinge in Seenot gerettet hat und dem trotz prekärster Verhältnisse an Bord sechs Tage die Erlaubnis verwehrt blieb, einen Hafen anzulaufen, wurde in Valletta Anklage erhoben wegen «inkorrekter Registrierung» seines Bootes. Er riskiert ein Jahr Gefängnis. Die Aquarius von Ärzte ohne Grenzen liegt fernab des Geschehens in Marseille, wohin sie ausweichen musste, weil die italienischen Häfen versperrt blieben. Auch die Aufklärungsflugzeuge der NGOs, die unverzichtbare Dienste zur Ortung von Booten leisten, können nicht mehr aufsteigen. Das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge gibt an, dass bisher vierzig Prozent der Seenotrettungen von NGOs geleistet worden sind. Die Frontex-Staaten arbeiten gerade mit aller Macht daran, diesen Anteil auf null zu senken. Es ist unausweichlich, dass die Opferzahlen steil nach oben schiessen. Es ist die Absicht.

    Open Arms erhebt jetzt den Vorwurf, die libyschen Patrouillenboote, die in der Nacht vom Montag auf den Dienstag in dem Sektor operierten, hätten die beiden Frauen und das Kind, die die NGO später geborgen hat, mutwillig zurückgelassen, weil sie sich geweigert hatten, nach Libyen zurückgebracht zu werden. Ob die Vorwürfe zutreffen, ist nicht abschliessend geklärt. Offenbar fanden in dieser Nacht mehrere Rettungsaktionen in dem Sektor statt, teils mit, teils ohne unabhängige Zeugen. Aber wer hat das Schlauchboot zerstört, auf dessen Wrack zwei Leichen und die zurückgelassene Frau trieben? Und warum hatte die einzige Überlebende nur zwei Wörter: Not Libya?

    Sicher ist, dass Matteo Salvini und die postfaschistische europäische Rechte diese Fragen nicht eine Sekunde lang interessieren. Ein ertrunkener Migrant ist ein guter Migrant: Es fällt schwer, es ist zutiefst verstörend, diese Tatsache zu akzeptieren, aber das ist heute die implizite Prämisse der offiziellen europäischen Politik, der blockierten Rettungsschiffe, der kriminalisierten NGOs, der «Zusammenarbeit» mit der libyschen Küstenwache.

    Und noch etwas ist sicher: Das demokratische, rechtsstaatliche, das christliche Europa ist in seinen innersten Werten akut bedroht.

    1. Auf den offenen Brief von Pauline Schmidt hat Mariam Lau via Facebook geantwortet.

      Sehr lesenswert finde ich Populismus und Appeasement von Michael Kraske im Journalist-Magazin.

      Mely Kiyak, Zeit Online an Roberto Saviano – Wir sind da, wir sind hier
      Und ein Vortrag von ihr auf einer Tagung der evangelischen Akademie Ende Juni – Handlung als Haltung

      BuzzFeed veröffentlicht den EU-Sicherheitsbericht über Libyen in voller Länge. Falls irgendeiner unserer Politiker/Journalisten behaupten sollte, man hätte von nix gewusst.

      Forschungsgesellschaft Flucht und Migration – „Für Erste Hilfe wurden wir nicht ausgebildet“

      Journalisten der italienischen Tageszeitung „Il Fatto Quotidiano“ ist es gelungen, Militärs der sogenannten libyschen Küstenwache zu interviewen; ihnen wurde Anonymität zugesichert. Ein Oberst habe erklärt, dass die libysche Küstenwache nicht für die Leistung Erster Hilfe bei der Seenotrettung ausgebildet wurde. Nicht einmal medizinisches Personal sei an Bord. Tote würden bei dem Aufbringen von Flüchtlingsbooten und dem erzwungenen Umsteigen auf die libyschen Schiffe zurückgelassen. Die Überlebende Josefina, die 48 Stunden nach einem erzwungenen Transfer auf libysche Schiffe zurückgelassen worden sei, wäre wohl „in der Dunkelheit“ übersehen worden. Das NGO-Rettungsschiff von Open Arms hatte sie und zwei Tote geborgen und nach Mallorca gebracht.

      „Il Fatto Quotidiano“ berichtet weiter, dass Redakteure dieser Tageszeitung die italienische Verteidigungsministerin Elisabetta Trenta (Bewegung Cinque Stelle) nach der libyschen Praxis befragt hätten, dass die sogenannte libysche Küstenwache Flüchtlingsboote zerstört, um die untergehenden Bootsflüchtlinge zum Umsteigen auf die libyschen Schiffe zu zwingen. Die Verteidigungsministerin sagte, wenn diese Vorgehensweise bestätigt würde, würde es sich um „sehr schwerwiegende“ Vorkommnisse handeln. Die Tageszeitung betont, dass sie den italienischen Militärs, die entsprechende Aussagen gemacht hätten, Anonymität zugesichert habe. Als „Militärs“ werden beispielsweise auch die Angehörigen der Guardia di Finanza bezeichnet, die die Ausbildungsmissionen der libyschen Küstenwachenmilizen durchgeführt haben.

      108 Geflüchtete, die von einem italienischen Versorgungsschiff (für eine Ölplattform) aus Seenot gerettet worden waren, wurden auf Anweisung der italienischen Küstenwache nach Libyen zurück gebracht, Christian Jakob, taz:

      Die italienische Rettungsleitstelle MRCC habe den Kapitän angewiesen, mit der libyschen Küstenwache abzustimmen, wohin die Menschen gebracht werden sollen. Aus Schiffs-Tracking-Daten geht hervor, dass die „Asso Ventotto“ daraufhin direkt Kurs nach Libyen nahm und gegen 19 Uhr den Hafen von Tripolis erreichte.

      Italien war 2012 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt worden, weil es im Mai 2009 eine Gruppe von 227 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea nach Libyen zurückgebracht hatte. …

      Der EGMR entschied, dass Italien damit die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt habe, weil den Flüchtlingen in Libyen unmenschliche Behandlung drohte. Weil die Schiffe unter italienischer Flagge gefahren seien, gelte die EMRK auch dort. Seitdem hat kein europäisches Schiff mehr Flüchtlinge in das nordafrikanische Land gebracht. Die „Asso Ventotto“ ist ein Präzedenzfall.

  15. Andrea Backhaus, Zeit Online im Gespräch mit Hanan Salah, Libyenexpertin bei Human Rights Watch – „Es gibt dort keine Menschlichkeit“

    ZEIT ONLINE: Ende Juni hat Italien die Koordination der Seenotrettung auf dem Mittelmeer an die libysche Küstenwache abgegeben. Die kontrolliert nun ein großes Gebiet vor ihrer Küste. Halten Sie das für den richtigen Weg?

    Salah: Nein. Wir glauben nicht, dass die libysche Küstenwache die Kapazitäten hat, um sichere und effektive Rettungsaktionen durchzuführen. Sie hat weder die richtigen Boote, noch die nötige Ausstattung, um auf akute Notfälle angemessen zu reagieren. Vielmehr geht damit der Kreislauf von Gefangenschaft und Ausbeutung immer weiter. Denn die Menschen, die die libysche Küstenwache abfängt, werden fast ausnahmslos in die Gefangenenlager gebracht. Das führt dazu, dass noch mehr Menschen in Libyen unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten werden. Das darf die EU nicht verstärken.

    ZEIT ONLINE: Die EU unterstützt die libysche Küstenwache mit Training und Ausrüstung. Dabei arbeiten für die Küstenwache oft lokale Milizen, die eng mit Schleppern und Schmugglern im Land vernetzt sind.

    Salah: Die libysche Küstenwache steht unter Kontrolle des Verteidigungsministeriums. Doch nicht alle, die für die Küstenwache arbeiten, sind Polizisten oder Marineoffiziere und haben eine professionelle Ausbildung. Viele haben erst nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi 2011 bei der Küstenwache angefangen. Einige haben zuvor gegen Gaddafi gekämpft, andere waren Mitglieder von Milizen, die einfach eine Arbeit brauchten. Ihnen fehlt das Wissen und die Erfahrung, um Rettungsaktionen durchzuführen. Auch gibt es keine einheitliche Kontrolle der gesamten Küstenwache, sondern unterschiedliche Befehlsketten, die sich teilweise widersprechen.

    ZEIT ONLINE: Wer trägt dafür die Verantwortung?

    Salah: Das Innenministerium der Regierung für Nationale Einheit trägt ganz klar die Verantwortung für die grauenhaften Zustände in den Gefängnissen. Die zuständigen Behörden haben die Pflicht, die Menschen zu schützen. Nun bringt die libysche Küstenwache die Menschen zurück in eine Situation, in der sie extremer Gewalt ausgesetzt sind. Die Küstenwache sollte sicherstellen, dass Menschen in Seenot gerettet werden. Aber sie sollte die Geretteten nicht zurück nach Libyen bringen. Libyen ist kein sicherer Ort für die Menschen.

    ZEIT ONLINE: Was sollte die EU Ihrer Meinung nach tun?

    Salah: Die EU muss Nichtregierungsorganisationen und privaten Seenotrettern weiterhin ermöglichen, in Seenot geratene Menschen auf dem Mittelmeer zu retten. Sie muss das Leben der Menschen auf See schützen und dafür sorgen, dass die Rettungsboote in sicheren Häfen anlegen können.

    Vor allem muss die internationale Gemeinschaft viel mehr Druck auf die Regierung in Tripolis ausüben. Sie kann nicht finanzielle Mittel und Ausrüstung an die libyschen Behörden liefern, ohne sie im Gegenzug dazu anzuhalten, die Bedingungen in den Gefängnissen zu verbessern. Die EU müsste unabhängig prüfen lassen, wohin genau ihr Geld geht. Die Europäer müssen den Libyern klar sagen: Wir unterstützen euch nur, wenn ihr die Situation für die Menschen verbessert – und zwar schnell, denn die Lage ist untragbar. Libyen ist ein rechtsfreier Raum, es herrscht völlige Straflosigkeit. Die EU muss da klare Maßstäbe vorgeben. Es darf keine Toleranz für Folter geben.

  16. …danke, danke, danke.
    Ich wünschte, ich hätte die Energie, mich so sehr in ein Thema zur vertiefen und so klug das Unrecht anzuprangern, dass da unter dem Mantel von „Bürgerliche Rechte Meinungen müssen doch Platz haben; naja, machen wir halt ein Pro/Contra draus“ verkauft wurde.

    Ich lese die Zeit lange und gerne. Aber es gab schon heftige Ausfälle in den letzten Jahren. Ich denke an das Anti-Metoo-Titelblatt oder die Frage, ob man überhaupt noch Sex haben darf, jetzt wo Vergewaltigungen nicht mehr so cool sind. In solchen Momenten frage ich mich, ob ich es lieber bleiben lasse, den Medienkonsum… und zurück zu meinem angenehm im 19. Jahrhundert verhafteten Bücherregal zurückkehre.
    Aber Vogel Strauss kann doch kein demokratisches Ideal sein.

    Alles Liebe!

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