Altersorakel

Einer der Gründe, warum ich seit einer Weile nur selten blogge, sind die Wiederholungen. Es ist mir öde, den gleichen Gedankengang zum gleichen Thema zum x-ten Mal niederzuschreiben, hier: Altersfestsetzung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, worüber ich schon im Juli 2015 geschrieben hatte:

Die vermessene Menschenwürde

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden in Deutschland vermessen, geröntgt, fotografiert, begutachtet und befummelt, sie werden erkennungsdienstlich behandelt, ihnen wird in den Mund und zwischen die Beine geguckt. Sie werden zu Erwachsenen gemacht, weil ihnen so weniger Schutz und Unterstützung zuteil wird, als ihnen per Gesetz zusteht. Mit ärztlicher Erfüllungsgehilfenschaft, die an die furchtbaren Mediziner des 19./20. Jahrhunderts anknüpft.

Seitdem hat sich rein gar nichts zum Positiven verändert, im Gegenteil.

 


 

Andrea Nahles (SPD) ist sicher, daß man sich mit der CSU (to do brindt (veraltet) wirr reden oder handeln) über die Alterstests an unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen schon irgendwie einigen wird.

Die Fraktionsvorsitzende Nahles sagte der Bild am Sonntag, sie sei sich sicher, dass man sich auf ein Verfahren einigen könne. Nahles betonte, der Staat dürfe sich nicht belügen lassen. Viele Antragsteller gäben ihr Alter nicht korrekt an, diese müsse man herausfiltern. Konkret verwies die SPD-Politikerin auf das Vorbild Hamburg, wo die Beweispflicht nicht beim Staat, sondern bei den Flüchtlingen liege. Nahles betonte, die Hamburger Behörden schätzten das Alter ein. Sei der Betroffene damit nicht einverstanden, könne er selbst beweisen, dass er jünger sei – etwa durch eine Handwurzeluntersuchung.

Das qualifiziert sie zur Kriminellen, nicht für ein politisches Amt.

Sekundiert werden die AfD-Rechtsüberholer von der CSU und die Karrieristen von der SPD von den Medien, die breitflächig von Altersfeststellung fabulieren. Eine erfreuliche Ausnahme ist der Artikel von Susanne Donner im Tagesspiegel, die sich detailliert mit den verschiedenen Methoden auseinandersetzt: Das kaum geprüfte Orakeln um das Alter, daraus:

Auch der auf die Beurteilung kindlichen Körperwachstums spezialisierte Kinderarzt Tim Cole vom Londoner University College sagt: „Die Methoden sind so ungerecht, dass man besser eine Münze wirft, um eine Entscheidung zwischen ermitteltem und angegebenem Alter zu treffen.“

 


 

Die Bundesärztekammer hat sich seit 1995 fünf Mal in Folge gegen medizinische Alterstests an geflüchteten Kindern und Jugendlichen ausgesprochen. Weil das Röntgen von Handwurzel, Schlüsselbein und Zähnen ohne medizinische Indikation gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit verstößt und weil kein medizinisches Verfahren existiert, das wissenschaftlichen Minimalstandards genügt. Von der Verletzung der grundgesetzlich höchstgeschützten Intimsphäre bei den Penisvermessungen – die aus seltsamen Gründen in der aktuellen Diskussion auf einmal gar keine Rolle mehr spielen – gar nicht erst zu reden.

Das Grundgesetz gilt nicht nur für deutsche Staatsbürger, sondern für alle, die sich auf deutschem Staatsgebiet aufhalten. Die Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention, die nicht-deutsche Kinder und Jugendliche ausgrenzen sollten, wurden 2010 aufgehoben – weswegen es u.a. auch gegen geltendes Recht verstößt, den Familiennachzug bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen auszusetzen, der auch vor besagter Aussetzung albern niedrig war.

Aus der Stellungnahme der zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer (2016) 4.2 Vorgaben der Kinderrechtskonvention:

Nach der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-Kinderrechtskonvention) müssen in allen Asylverfahren die Rechte besonders schutzwürdiger Personen unter spezieller Berücksichtigung des Kindeswohls von der Antragstellung an berücksichtigt und gewahrt werden. Für unbegleitete junge Flüchtlinge gilt danach derselbe Schutzauftrag wie für jedes andere elternlose Kind im Hoheitsbereich des jeweiligen Staates. Gibt der junge Flüchtling an, minderjährig zu sein, ist deshalb bis zum Nachweis des Gegenteils davon auszugehen, dass es sich um einen Minderjährigen handelt.

In jedem Verfahren hat das Kindeswohl grundsätzlich Vorrang, auch in Begutachtungsverfahren, in denen der Gutachter zu Neutralität verpflichtet ist. Hierzu zählt der Schutz der physischen und psychischen Integrität, das Verbot entwürdigender Maßnahmen, Schutz vor Zufügung körperlichen oder geistigen Schadens und das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit.

Das in Zusammenarbeit mit dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) formulierte Position Paper on Age Assessment in the context of separated children des Separated Children in Europe Programme (SCEP), verlangt demgemäß, dass in aller Regel das vom jungen Flüchtling angegebene Alter zugrunde gelegt wird. Medizinische Altersschätzungen sollen danach nur in wenigen Ausnahmefällen, z. B. bei augenfälligen Abweichungen des äußeren Erscheinungsbildes vom angegebenen Alter, durchgeführt werden. Im Sinne des Grundsatzes „in dubio pro minore“ müsse in einem Gutachten auf das Mindestalter der Befunde fokussiert werden. Auf Untersuchungen der Intimsphäre und die Anwendung von Röntgenstrahlen solle grundsätzlich verzichtet werden. Darüber hinaus bestehe die Pflicht, dem jungen Flüchtling zur Vertretung von dessen Rechten einen gesetzlichen Vertreter zur Seite zu stellen. Dies gelte auch für die Zustimmung zu medizinischen Eingriffen, insbesondere dann, wenn diese nicht zum Zweck der individuellen Gesundheit durchgeführt werden.

 


 

Die machtgeilen Karrieristen von der SPD werden vom Rechtspopulisten der Grünen sekundiert:

Der Grünen-Politiker Boris Palmer brachte noch eine andere Variante ins Gespräch: Er empfiehlt eine Umkehr der Beweislast. Wer nicht nachweisen könne oder durch eine Untersuchung belegen wolle, dass er unter 18 sei, solle als Erwachsener behandelt werden, schrieb der Tübinger Oberbürgermeister auf Facebook.

Die Bedenken des Ärztepräsidenten erklärte Palmer „angesichts der erheblichen Kosten und offenkundigen Gefahren, die von dieser Gruppe junger Männer ausgeht“ als naiv. „Ein Flug von Afghanistan nach Deutschland hat eine ähnlich relevante Strahlenbelastung zur Folge wie eine Röntgenuntersuchung der Hand“, schreibt der umstrittene Grünen-Politiker. „Das ist zumutbar, wenn man schon den Pass nicht vorlegen kann.“  Und ohnehin scheine es ihm „ein Irrtum zu sein, höchste Empfindlichkeitsstandards unserer Gesellschaft auf Menschen zu übertragen, die in ihrem ganzen Leben nie von solcher Fürsorge gehört haben“.

Immerhin läßt Palmer an seiner Abkehr von Grundgesetz und Kinderrechtskonvention keinen Zweifel. Bei Andrea Nahles darf man sich wahrscheinlich noch auf die Bemäntelung ihres elastischen Rückgrats mit z.B. dem ‚Kindeswohl‘ freuen.

Ob „der Staat darf sich nicht belügen lassen“ für Cum-Ex/Cum-Cum-Steuerbetrüger wohl ebenso lebenslängliche Konsequenzen haben wird, wie Beweislastumkehr und Nicht-Förderung für geflüchtete Kinder und Jugendliche?
Bitte entschuldigen Sie die dumme Frage.

 


 

Außerdem wird sowieso alles gut:

Die Zahl der in Deutschland vermissten minderjährigen Flüchtlinge ist im letzten Jahr weiter zurückgegangen. Wie die Neue Osnabrücker Zeitung unter Berufung auf Daten des Bundeskriminalamts (BKA) berichtete, gelten derzeit knapp 5.300 junge Flüchtlinge als vermisst – vor einem Jahr waren es noch 8.340. … Der Großteil der aktuell vermissten Jugendlichen ist zwischen 14 und 17 Jahren alt, knapp 1.000 Personen sind jünger als 13 Jahre.

Und wenn sie nicht gestorben sind, sind in knapp 2 Jahren alle wieder da. Das Schöne daran: sie sind dann oft nicht mehr minderjährig, kosten also weniger Geld.

 


Bild: Elements of phrenology, George Combe, Wikimedia Commons, gemeinfrei


30 Kommentare zu „Altersorakel

  1. Wie Recht Sie haben. Auch mein Grund, seit einer Weile weniger zu bloggen. Es ist zunehmend frustrierend. Man hört sich kontinuierlich selber dabei zu, sich zu wiederholen. „Rechtsstaatlichkeit“, „Menschenwürde“, „Demokratie“. Ich war der Bundesärztekammer für ihren Einspruch sehr dankbar. Doch auch da darf man fragen: Wie lange noch? Wie lange, bis die permanenten Debatten die radikalen Stimmen Normalität werden lassen? Und: kümmert es diejenigen, die ihre Karrierechancen durch populistischen Irrsinn gestärkt sehen und glauben, dieser verschaffe ihnen das „nötige Profil“ für den persönlichen Aufstieg? Danke jedenfalls, für diesen Beitrag.

    1. Man hört sich kontinuierlich selber dabei zu, sich zu wiederholen. „Rechtsstaatlichkeit“, „Menschenwürde“, „Demokratie“.

      Ich könnte ganze Blogs mit der Aneinanderreihung errungen geglaubter Werte füllen, die sich als alles mögliche erweisen, nicht aber tatsächlich als Werte verankert sind. Vermutlich ist es so, daß sich jede Generation das neu erarbeiten muß, Wiederholung also Programm ist. Die Zeitzeugen der industriellen Menschenvernichtung sind noch nicht alle gestorben und schon ist die Aushöhlung jedes Rechts im vollen Gang, das aus dem Erschrecken über die menschlichen Möglichkeiten im 3. Reich entstanden ist, es ist zum Weinen.

      Ich war der Bundesärztekammer für ihren Einspruch sehr dankbar. Doch auch da darf man fragen: Wie lange noch? Wie lange, bis die permanenten Debatten die radikalen Stimmen Normalität werden lassen?

      Zeit Online präsentierte heute morgen prominent einen Artikel aus Spektrum: Wie lässt sich ein Alter am besten bestimmen?
      Auf der Website der Charité gibt’s gleich ein praktisches Formular dazu.

      Das Thema ist in der Ärzteschaft – vorsichtig formuliert – umstritten. Ärzte sind Teil unserer sich rechtsradikalisierenden Bevölkerung, sie sind nicht automatisch vor Barbarei gefeit. Es ist beispielsweise eine Binse, daß Ärzte nie weit sind, wo gefoltert wird.

      Weswegen ich inständig hoffe, daß sich die Ethikkommission der Bundesärztekammer auch weiterhin gegen medizinisch nicht-indiziertes Röntgen und gegen die Kollaboration von Ärzten mit behördlich angeordneten Grundrechtsverletzungen ausspricht.

  2. Warum haben die nur alle keine Ausweise und keine Pässe? Frage ich mich immer, ohne Papiere kam man nicht einmal im Mittelalter durch ein anderes Land. Alles Andere hast Du ja schon geschrieben.

    1. Warum haben die nur alle keine Ausweise und keine Pässe?

      U.a., weil in ziemlich vielen Ländern kein Standesamt, kein Einwohnermeldeamt, keine Bundesdruckerei existiert und viele gar kein Personaldokument haben oder das Geburtsdatum allenfalls eine Schätzung oder der Name falsch geschrieben ist. Es gibt ziemlich viele Menschen auf der Welt, die keine blasse Ahnung haben, wie alt sie sind oder wann genau sie geboren wurden. Reisedokumente sind in solchen Ländern nur mit viel Geduld und Schmiergeld erhältlich.
      Flucht =/= Reise.

    2. Versuchen Sie doch mal, in Syrien Ausweispapiere zu bekommen, am Besten noch als Minderjähriger. Dürfte aktuell eher schwierig sein. Den SChleppern reichen Dollarnoten als Ausweis, würde ich denken. Es ist ja nun mal keine geregelte Situation, in der diese Menschen stecken.

  3. rotherbaron hat beim Freitag einen lesenswerten Blog zum Thema veröffentlicht: Bumerang-Härte, daraus:

    Würde man pragmatisch an die Sache herangehen, so könnte man feststellen: Bei jungen Migranten aus manchen Kulturkreisen gibt es Probleme, den ungezwungenen Umgang der Geschlechter untereinander, wie er in westlichen Kulturkreisen gepflegt wird, richtig zu deuten. Dem kann und sollte mit flächendeckenden, interkulturell angelegten Integrationskursen begegnet werden, die für kulturelle Differenzen sensibilisieren und so Missverständnissen vorbeugen können. Notwendig ist also das Gegenteil von dem, was die rassistische Boulevard-Debatte bezweckt: mehr Dialog miteinander, mehr Integrationskurse, mehr Traumatherapie, mehr interkulturelle Sozialarbeit.

    Derzeit läuft die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung: Viele Migranten werden sich selbst überlassen, die Verantwortung für ihre Betreuung schiebt man ehrenamtlichen Helfern zu, allenfalls spendiert man nach dem Gießkannenprinzip ein paar penibel abgezählte Sozialleistungen. Alles folgt der Logik, dass es sich bei den Migranten um unerwünschte Eindringlinge handelt, die die heilige deutsche Kultur auszuhöhlen drohen und denen man deshalb auf keinen Fall eine Bleibeperspektive anbieten möchte.

    Was man damit erreicht, ist das Gegenteil des Bezweckten. Ein Großteil der Migranten, die sich derzeit mit Schutzstatus in Deutschland aufhalten, wird eben – ob uns das nun gefällt oder nicht – nicht mehr in die Heimat zurückkehren. Verweigert man diesen Menschen eine Zukunftsperspektive, so erhöht man damit die Gefahr, dass sie sich vollends von der Mehrheitsgesellschaft abkapseln und in eben jene Parallelkulturen abtauchen, die dann als Beleg für die angeblich fehlende Integrationsbereitschaft der Migranten herhalten müssen.

  4. Tja, die AfD hat schon vollen Erfolg mit ihrer Politik, obwohl sie (noch) nirgendwo mitregiert. Aber da die etablierten Parteien lieber versuchen, die AfD rechts zu überholen, anstatt sich mal auf die vermeintlich verteidigten Werte zu besinnen und das den Leuten zu erklären, muss man sich da nicht wundern. Nahles? Die tut doch alles, um in der Politik einen guten Posten zu kriegen. Sonst kann sie ja nix. Rückrat oder Haltung sucht man in der SPD doch genauso vergeblich wie in der FDP, das hat Schröder der Partei nachhaltig ausgetrieben.

  5. deinen Abscheu vor menschlichen Vermessenstechniken teile ich. Etwas anderes beunruhigt mich: warum kommen so viele unbegleitete Kinder und was geschieht mit denen, die verschütt gehen? Werden sie Opfer krimineller Machenschaften? Sind sie es vielleicht schon von Anfang an?
    Dem Argument, dass keine Personalpapiere ausgestellt werden bzw die Leute ihren Geburtstag nicht kennen, kann ich nicht zustimmen, jedenfalls betrifft das nicht Syrien, Irak, Afganistan, Algerien, Tunesien, Marokko, Äthiopien, Erithrea. Das sind bzw waren funktionierende Staaten mit einer normalen Verwaltung.

    1. Bei Algerien, Tunesien, Marokko haben Sie vermutlich recht und über Äthiopien weiß ich zu wenig. In Eritrea hielte ich es für extrem unwahrscheinlich, daß einem demnächst zum Wehrdienst Verpflichteten oder jemandem, der aus dem Wehrdienst flieht, ein Reisepaß ausgestellt wird. Daß in Syrien, Irak, Afghanistan der Staat funktioniert und die Verwaltung normal ist, möchte ich bezweifeln (mal ganz davon abgesehen, daß normal sehr von der Betrachterperspektive abhängt).

      Ich habe zwei türkische Freunde in den 40ern, die unabhängig voneinander und in unterschiedlichen Gegenden der Türkei Phantasiegeburtsdaten verpasst bekamen, als ihr Vater mit x Kindern die örtliche Verwaltung aufsuchte und sie gesammelt eintragen ließ – beide sagen, daß das übliche Praxis war und viele ihrer Kinderfreunde nie irgendwo eingetragen wurden, was erst im Wehrdienstalter auffiel. Von einem Freund, der früher in Afghanistan und inzwischen in einer Clearingstelle für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Norddeutschland arbeitet, weiß ich, daß es in Afghanistan und Pakistan auch heute nur sehr bedingt üblich ist, Kinder in ein Melderegister eintragen zu lassen. Bekannte in Tanzania und Mozambique in den 30ern kennen ihr Geburtsjahr und -datum nicht, was nicht daran liegt, daß Staat und Verwaltung nicht halbwegs funktionieren würde – sie stammen aber alle aus ländlichen Gegenden, wo die nächste Stadt und Meldestelle eine Tagesreise weit weg ist. Es ist auch nicht überall auf der Welt üblich, einen Geburtstag zu feiern.

      Warum so viele unbegleitete Minderjährige kommen, hat vermutlich unterschiedliche Gründe. Mädchen fliehen vor Zwangsarbeit und Zwangsehen, vor sexualisierter Ausbeutung und Gewalt, Jungen außerdem vor der Rekrutierung und es gibt sicher auch Familien, die in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft einen Sohn vorschicken, weil es bei ihm wahrscheinlicher ist, daß er die Flucht auch überlebt. Oft wird auch das Geld nur für eine Flucht reichen und nicht für die der ganzen Familie. Von besagtem Freund in der Clearingstelle weiß ich, daß viele Jungen aus Algerien und Marokko dort auf der Straße lebten, noch nie irgendeinen Paß hatten und ich möchte lieber nicht wissen, wie viele Kinder in Deutschland nirgendwo eingetragen wären, gäbe es nicht den Zwang, das subito nach deren Geburt zu tun. Und dann gibt’s natürlich auch die Minderjährigen, die auf Anraten von Schleppern ihre Pässe vernichten. Der andere Stefan hat schon recht – Schleppern reichen Dollarnoten als Ausweis.

      Die auf der Flucht nach oder in Europa/Deutschland verschwundenen Kinder und Jugendlichen sind entweder tot oder sie sind in Gefahr und mich macht es fassungslos, wie wenig fassungslos Tausende abhanden gekommener Minderjährige die Öffentlichkeit und Behörden machen. Minderjährige werden in Deutschland automatisch vom Jugendamt in Obhut genommen und es wirft ein Schlaglicht auf die lausige Qualität ihrer Betreuung, daß dermaßen viele verschwinden. Auch das fällt für mich unter kriminelle Machenschaften.

  6. „Warum haben so viele Menschen keine Papiere?“

    Von einigen wird getan, als sei jeder Pass ein Amulett, das ihren Trägern Glück bringt.
    Tatsächlich sind staatliche Papiere der moderne Ersatz für eintätowierte KZ-Nummern.
    Eine Staatsgewalt erklärt damit einen Menschen zu ihrem Eigentum.
    In der Konkurrenz der Staaten mag es für Menschen ein Vorteil sein, wenn sie einen Pass mit deutschem oder britischem Stempel tragen. Menschen aus „Pariah-Staaten“ werden von ihrer Regierung eben nur zum Pariah gestempelt. Das wird nur noch unterboten, wenn einer Gruppe von Menschen jede Staatsangehörigkeit verweigert wird (Rohinga, Palästinenser).
    Die Sortierung der Menschen nach ihrer Staatsangehörigkeit ist eine moderne Form von Rassismus.
    Sorry für die harten Worte.

    1. Tatsächlich sind staatliche Papiere der moderne Ersatz für eintätowierte KZ-Nummern. … Sorry für die harten Worte.

      Ihre Worte sind weniger hart als voll daneben. Ich bitte Sie höflich, in meinem Blog äußerst sparsam mit KZ-Vergleichen umzugehen.

      Face it: der Garant für Menschenrechte heißt Nationalstaat. Ob Ihnen oder mir das nun gefällt oder nicht.

      1. „der Garant für Menschenrechte heißt Nationalstaat“. Diese Aussage kann ich nicht nachvollziehen. In meinen Geschichtskenntnissen ist mir kein Nationalstaat bekannt, der zu irgendeiner Zeit Menschenrechte ohne Ansehen der Person garantiert hätte. Mir fallen aber viele „zivilisierte“ Staaten ein, bei denen das nicht der Fall war/ist. Und in Ihrem Opener bringen Sie selbst dafür Beispiele.
        Auf den Vergleich Passnummer = KZ-nummer bestehe ich nicht, darf aber daran erinnen, dass die Nazi-Kzs unterschiedlichen (inhumanen) Zwecken dienten und nicht alle KZs Vernichtungslager waren.

        1. Im Opener bringe ich Beispiele dafür, wie ein reicher und vergleichweise zivilisierter Nationalstaat mit Minderjährigen umspringt, die eine andere oder keine Nationalstaatsangehörigkeit haben. Wie ich zu meiner Aussage komme, wird Ihnen eventuell nachvollziehbarer, wenn Sie sich vergegenwärtigen, wie viele Rechte Staatenlosen vorenthalten bleiben. Über Staatenlosigkeit gibt es hier einige Blogs, u.a. über das Recht, Rechte zu haben.

          Es geht mir nicht darum, was wünschenswert ist und mit erfolgreich absolvierter Weltrevolution ganz bestimmt anders wäre, sondern um die Ist-Situation. Sie und ich und alle hier sind durch unsere Nationalstaatszugehörigkeit extrem privilegiert, wir sind mit vergleichsweise vielen Rechten ausgestattet und können mit einem deutschen Reisepass ohne erwähnenswerte Formalitäten in 176 Länder reisen. Die Eintätowierung einer KZ-Nummer beinhaltete dieses Privileg ganz sicher nicht. Weswegen Ihr Vergleich mehr als schräg ist.

          Das Problem liegt weniger darin, daß Staaten ihre Bürger als Eigentum betrachten, sondern bitter wird es dann, wenn Staaten das (um in Ihrem Bild zu bleiben) nicht tun. Selbst mit dem Nansenpaß war man schon mal weiter als heute.

          1. Ist es kein offener Widerspruch, wenn die Menschenrechte nur geschützt werden, wenn es sich um Angehörige der eigenen Nation handelt? Ist das nicht klare Ungleichbehandlung – mit dem Prinzip der Menschenrechte unvereinbar?
            Dass die Menschen ohne Staat ganz rechtlos sind, darauf hatte ich auch schon hingewiesen.
            Auch das verweist darauf, dass wir in einer hierarchischen Welt von abgestuften Rechten und unterschiedlichen Lebenschancen leben.
            Das Flüchtlingselend ist nach allen Seiten hin Ausdruck und Auswirkung dieser hierarchisch organisierten Welt.

            1. Selbstverständlich steht das in offenem Widerspruch zu den universal gültigen, unteilbaren und unveräußerlichen Menschenrechten und selbstverständlich werden am Flüchtlingselend die Auswirkungen einer hierarchisch organisierten und extrem ungerechten Welt deutlich.

              Wie gesagt: bis zur erfolgreich absolvierten Weltrevolution ist das die Realität und ich fürchte auch, die wird noch bis übernächste Woche Montag auf sich warten lassen.

              1. Nun haben Sie zum zweiten Mal das Stichwort „Weltrevolution“ in die Debatte geworfen. Ich war zwar so aufrichtig und habe mich hier als radikalen Linken geoutet, aber ich bin kein Teil einer Gruppe, sondern äußere mich hier und anderswo als Individuum. Ich erwarte also, dass mir und meiner Meinung soviel Respekt entgegengebracht wird, dass meine (hier geäußerte) Ansicht kommentiert wird, und dass ich nicht stellvertretend für eine Gruppe mir nicht bekannter Menschen abgewatscht werde.

                1. off topic:
                  Irgendwie scheinen Sie Streit mit mir zu suchen, diesen Gefallen werde ich Ihnen auch in diesem Blog nicht tun, weil: der Streit hätte auch mit diesem Blogthema nichts zu tun und er ist nicht von allgemeinem Interesse.
                  Falls Sie mir persönlich schreiben möchten, steht Ihnen das Kontaktformular unter ‚Über‘ offen. Gleich vorausgeschickt: Ihre politische Konfession interessiert mich wenig und deren Bekanntgabe verschafft Ihnen auch keinen Spezial-Respekt.

                  Wenn Ihnen nicht passt, daß/wie ich Ihre Äußerungen kommentiere – Sie müssen bei mir nicht lesen, geschweige denn, kommentieren. Sie – nicht eine Gruppe Ihnen nicht bekannter Menschen – haben einen Vergleich gezogen, der nicht nur hinkt, sondern auf allen Vieren kriecht. ‚Tut mir leid, soll nicht wieder vorkommen‘ hätte es auch getan, me thinks.

                2. @off topic:
                  Nein, ich suche keinen Streit, sondern – wie alle Menschen – Übereinstimmung. Ich mag ihren Blog und ich bewundere Ihre Art zu antworten. – Nur die Antworten, die ich von Ihnen bekomme, gefallen mir nicht. ;-)

          2. Apropos ‚Recht, Rechte zu haben‘: heute vor 111 Jahren wurde Hannah Arendt geboren.

            Das ideale Subjekt der totalitären Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder der überzeugte Kommunist, sondern Menschen, für die die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion und der Unterschied zwischen wahr und falsch nicht mehr existiert.

  7. Die Menschenrechte haben Vorrang zu haben. Kein Mensch hat weniger Rechte nur weil er minderjährig ist, allein unterwegs oder unklare Identität hat. Selbst wenn man eins hat, ein Ausweisdokument kann verloren gehen und ist wenn man um sein Leben fürchtet auch nicht das Allerwichtigste, das ist nämlich am Leben zu bleiben.

    Zu der Sache mit den Papieren kommt durch die ganze eventuelle Konfusion über Daten oder nicht existenten Meldeverfahren (wie man sie hier verstehen würde) in den Herkunftsländern auch, dass es bei einigen Leuten den Fall gibt, dass Namen auf der Durchreise mehrfach angepasst wurden. Ich hatte mal ein Schüler, dessen Familie Asyl in Deutschland beantragt hatte. Das ursprüngliche Herkunftsland weiß ich nicht, aber die Familie war über die Türkei gekommen und dort waren die kompletten Namen geändert worden (Vor- und Zuname), in Deutschland hätten sie wohl gern wieder ihre usprünglichen angenommen, hatten aber nun unterschiedliche Papiere mit unterschiedlichen Namen, Schreibweisen und sonst wie Daten. Gesetzt den Fall, dass das sehr oft vorkommt – das würde ich vermuten – passiert dann das, was sie oben in einem Kommentar schon angemerkt haben und am Ende hat man dann kaum noch etwas Sicheres, weil die Betroffenen vielleicht froh sind irgendwie zu heißen oder schon vergessen haben wie sich ihr Name mal schrieb.

    1. Wie sehr sich Namen verändern, beschäftigt ganze Legionen us-amerikanischer Ahnenforscher auf der Suche nach ihren europäischen Wurzeln und bei denen war es immerhin noch die gleiche Schrift.
      Wie sehr sich Namen verändern, die aus einer anderen Schrift übertragen werden, kann man daraus ableiten.

      Was mich porös macht beim Lesen so mancher Artikel und deren Kommentare: kaum jemand macht sich den Unterschied zwischen Reise und Flucht klar. Eine Flucht aus Subsahara-Afrika oder aus Asien dauert nicht selten Jahre, weil zwischendrin immer mal wieder gearbeitet und Geld verdient werden muß – was durch die Verschiebung der EU-Grenzen ins unbegrenzt Ex-Territoriale auch nicht eben weniger wird. Europäisch initiierte Grenzüberwachung z.B. weit südlich der Sahara kann man als gelungenes Konjunkturprogramm für das angeblich bekämpfte Schlepperwesen begreifen, wenn es nicht gleich auf aktive Kleptokratenunterstützung rausläuft. Auf einer Flucht kann eine Menge passieren, aus der vielstrapazierten Wirtschaftsflucht können leicht amtliche Asylgründe werden – Beispiel Libyen, das lange Gastarbeiterland für halb Subsahara-Afrika war und wo heute Sklavenhandel, Schlepperwesen und EU-finanzierte Küstenwache in den Händen von Warlords liegt, gern auch in Personalunion.

      1. Zustimmung. Dabei könnte es einfach zu verstehen sein: Eine Reise tut man freiwillig und weil man etwas lernen oder sich entwickeln will, bei der Urlaubsreise auch mit dem Erholungsaspekt, eine Flucht hat immer mit existentiellen Gründen zu tun und das macht niemand freiwillig. Die Strapazen nimmt niemand auf sich, der nicht muss. Mich stört in manchen Artikeln der Ton oder Subton, die Leute wüssten nicht worauf sie sich einließen. Was nicht stimmt und unterstellt die Leute wären alle von hinter dem Mond. Sehr oft wissen die was für Risiken unterwegs auf sie zukommen könnten, wenn man das auszuhalten und eventuell nicht zu überleben in Kauf nimmt, dann reist man nicht, dann sieht man es als letzte Chance, dass man flieht.

  8. Das mit den Dokumenten ist halt deutsche Sichtweise, komischerweise hat wohl jede/r genug Filme/Serien aus den USA gesehen und da weisen die sich mit Führerschein (wg. Bild) oder halt der SV-Nummer aus. Weil die haben keinen Ausweis und z.B. im UK sind (sollten) die auch erst vor paar Jahren eingeführt (werden).
    Schlimm ist, daß Politik und Medien suggerieren, daß die alle mit Absicht keine Dokumente (mehr) haben. Dazu kommen z.B. noch solche Späßchen wie Beweislastumkehr, welche so allgemein sehr oft eh widerrechtlich vorausgesetzt wird.

    Wir kriegen unseren ersten Ausweis mit 16 (ich mit 14, DDR; ohne Scheiß am 2.10.1990); selbst wenn das Pass- und Meldewesen in Sonstwo ordentlich deutsch funktionieren sollte, hat mensch mit 15 noch keinen.

    Davon mal ab, wenn ich mit 15 aus Afghanistan drei Jahre lang abgehauen wäre, wäre ich in der Zeit ein 15-Jähriger syrischer Christ geworden…

    1. Dazu kommen z.B. noch solche Späßchen wie Beweislastumkehr …

      Es ist mir ein Rätsel, wie unsere sarrazynische Mitte glauben kann, sie selbst seien gegen Späßchen wie Beweislastumkehr imprägniert. Die könnten auch mal auf sie Anwendung finden.

      Grüße, gutes neues Jahr!

  9. Andere Minderjährige, nämlich bei der Bundeswehr – unfuckingfaßbar!
    ntv:

    Demnach sind die Verpflichtungen von Minderjährigen seit Aussetzen der Wehrpflicht kontinuierlich angewachsen, von 689 im Jahr 2011 auf den bisherigen Rekordwert von 1907 im Jahr 2016 und auf nunmehr 2128. Besonders stark sei die Zahl der minderjährigen Soldatinnen gestiegen. Sie habe sich seit 2011 (57) fast verachtfacht.

    „Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hat offenbar keine Skrupel, die Nachwuchsgewinnung immer weiter vorzuverlegen“, sagte die Linken-Abgeordnete Evrim Sommer der „Rheinischen Post“. Solange Deutschland selbst Minderjährige für militärische Zwecke rekrutiere, könne es andere Staaten dafür nicht glaubwürdig kritisieren. „Die Bundesregierung gefährdet damit ihre eigenen Bemühungen zur internationalen Ächtung des Einsatzes von Kindersoldaten.“

    „Kindersoldaten darf es bei der Bundeswehr nicht geben“, kritisierte der evangelische Militärbischof Sigurd Rink. Die Ausbildung Jugendlicher zu Soldaten sei brisant, weil es die Idee der Parlamentsarmee zumindest in Frage stelle, wenn Menschen ohne Wahlrecht Soldaten werden.

  10. Ist es nicht etwas naiv so zu tun als ob unter den Minderjährigen keine schwarzen Schafe sind?
    Wie hoch würdest Du den Anteil der schwarzen Schafe schätzen?

    1. Willkommen Peter.
      Würden Sie bitte in Zukunft zum Thema kommentieren?
      Das Thema hier lautet nicht schwarze Schafe und ihr Anteil unter unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und es geht auch nicht um die Frage, ob ich etwas naiv bin oder wie Sie mir das am besten unterschieben.

      Es mag Ihnen noch nicht klar geworden sein, aber auch schwarze Schafe haben Menschenwürde und alle sich daraus ableitenden Rechte.

      Wünschen Sie sich auch lieber nicht, daß Menschenrechte nur der Mehrheit der weißen Schafe vorbehalten werden. Denn auch Sie könnten schneller als schwarzes Schaf gebrandmarkt werden als Sie sich das vorstellen und als Sie mähehe (Halt! Hilfe, ich doch nicht!) machen können.

  11. Für den Grimmepreis nominierte Dokumentation des BR: Verschwunden in Deutschland

    Zahllose Minderjährige sind mit der großen Flüchtlingswelle nach Deutschland gekommen. In einem Alter, in dem deutsche Kinder und Jugendliche zur Schule gehen, haben sie sich aus Afghanistan oder Afrika aufgemacht, alleine durch die Wüste, über das Meer und über viele Grenzen. Erst waren sie ihren Schleppern ausgeliefert, jetzt, in Deutschland, sind sie auf sich alleine gestellt, leicht manipulierbar, einfach auszubeuten.
    Viele minderjährige Geflüchtete sind in Familien untergekommen, aber Tausende sind schlicht „verschwunden“. Einer der Verschwundenen ist Mubarak aus Afghanistan. Er war in Bautzen untergebracht – und plötzlich weg. Ist er untergetaucht, abgehauen oder in die Fänge von Kriminellen geraten? Bei der Polizei ist er als vermisst gemeldet, doch die Behörden wissen nichts über den Jungen.
    Die Nachforschungen führen die ARD-Reporterinnen Natalie Amiri und Anna Tillack in eine kaum für möglich gehaltene Halbwelt. Sie lernen andere Flüchtlingsjungen kennen, die versuchen, alleine zu überleben und weiterzukommen. Ihre größte Sehnsucht: irgendwann einmal irgendwo ankommen. Auf der Suche nach dem vermissten Jungen aus Afghanistan tauchen die Autorinnen in eine Szene ein, in der Minderjährige zu Drogendealern gemacht werden. Auch islamistische Hassprediger, warnt der Verfassungsschutz, werben sie gezielt an. Und wer in den Straßen deutscher Großstädte verloren geht, kann schnell auf dem Kinderstrich landen.
    Was wird aus den verschwundenen Teenagern? Welchen Risiken sind sie ausgesetzt? Werden sie selbst zu Gefährdern? Am Ende ihrer intensiven Recherchen und vielen Reisen gelingt den Autorinnen das, was die Behörden nicht geschafft haben: Sie finden Mubarak. Auf ihrer Reise durch die gefährliche Welt der verlorenen Jungen stoßen die Filmemacherinnen auf Missstände in Deutschland, über die keine Behörde offen sprechen will.

.

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..