Die Antwort auf die zu 85% in armen Ländern stattfindende Flüchtlingskrise lautet also „Kontrollierte Zentren“ (ja, wurde genau so gesagt) in Europa, „regionale Anlandeplattformen“ und Internierungslager in Nordafrika. Nicht, daß Marrokko, Tunesien, Algerien, Libyen, Ägypten je gefragt worden wären oder sich gar damit einverstanden erklärt hätten. Aber das Einverständnis zum weiteren Ausbau der ex-territorialen Festung Europa wird man sich schon mit Geld und/oder Waffen herbeinötigen.
Man könnte natürlich auch das lustige Türkei-EU-Spiel weiterspielen und den nordafrikanischen Staaten EU-Beitrittsverhandlungen in Aussicht stellen. Um sie später mit ein paar Milliarden und vom UNHCR legitimierten Lagern abzufinden und ihre Staatsoberhäupter gar nicht diktatorisch und korrupt genug haben zu können, andernfalls nähme ja die europäische Wirtschaft Schaden. Das Konzept der „sicheren“ Erst-, Zweit- und Dritt-Staaten ist doch bestimmt noch ausbaubar, nachdem man bereits in Afghanistan und Syrien „innerstaatliche Bleibeperspektiven“ ausmachte.
In jedem Fall muß das ohnehin lückenlos überwachte Mittelmeer noch viel lückenloser überwacht werden. Frontex wird bis 2020 von 1.200 auf 10.000 Grenzschützer aufgerüstet, mit mehr Geld, Schiffen, Waffen und Überwachungstechnik mit Live-Bilddaten versehen. Damit man es besser sehen und noch viel besser weglügen kann:
Ich präsentiere Ihnen jetzt eine grausame Milchmädchenrechnung: Zu der Zeit, als ich noch im Mittelmeer mitgefahren bin, da entdeckten wir pro Tag und pro Schiff – und wir waren viele Schiffe – mindestens 2, oftmals 3 bis 5 gekenterte Schlauchboote. Rundherum sind oft ein paar Leichen im Wasser getrieben. …
Jedes dieser Boote war mit Sicherheit mit bis zu 180 Menschen gefüllt. Die Leichen haben wir nie gefunden. Diese lagen schon längst auf dem Meeresgrund oder wurden Tage später an den umliegenden Küsten angespült.
Wir konnten nur die auf dem Wasser treibenden Leichen zählen und haben es dann Rom so weitergegeben. Das waren immer so, je nach dem 10-20 tote Körper. Nur diese Körper sind in die Statistik der Ertrunkenen im Mittelmeer eingeflossen. Dann erhält man eine Zahl wie 1500 oder auch mal 3000 pro Jahr. Eine sehr geschönte Zahl, so makaber das auch klingen mag. Die Dunkelziffer ist brutal. Theoretisch müssen wir die 3000 mindestens mal 10 nehmen.
Unsere Dunkelziffer ist so unfassbar hoch, dass wir darüber selbst nicht sprechen, weil sie völlig absurd klingt. Ich erinnere mich an ein Gespräch im Büro (wir haben uns dabei flüsternd unterhalten), da wurde intern eine 60.000 als niedrig, aber durchaus realistisch eingeschätzt.
Aber die nichtstaatliche Seenotrettung im Mittelmeer gehört Dank ihrer Kriminalisierung nun der Vergangenheit an, wer ein bißchen Geld übrig hat, könnte für Prozesskosten spenden.
Die Zahl der toten Flüchtlinge/Migranten in der Sahara wird mangels öffentlichem Interesse gar nicht erst erhoben.
Würden doch nur Linksradikale mit den gleichen „robusten“ Mitteln bekämpft wie Rechtsradikale: mit der bereitwilligen Erfüllung ihrer Forderungen! Der Unterschied: Linksradikale fordern nicht die Schleifung, sondern Erhalt und Ausbau der vielbemühten Europäischen Werte. Den Erhalt und Ausbau von internationalem See- und Völkerrechtsabkommen, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtscharta, des deutschen Grundgesetzes.
Wenn ich dann Seehofer und seinen Club sozialer Unruhestifter von der „Konservativen Revolution“ reden höre, von der „Festung Europa“, dem „Migranten sofort Abweisen“-Unfug oder den „Asyltourismus“-Thesen – Dann bleibt mir mein Essen im Halse stecken.
Das lässt mich kopfschüttelnd und entsetzt zurück. Wenn mich mein Innenminister dafür kriminalisiert, dass ich das deutsche Grundgesetz ehre und danach mit besten Wissen und Gewissen handle, dann macht es mich nicht mal mehr wütend. Es verletzt mich. Es macht mich müde und traurig und fassungslos.
Man könnte jetzt auf eine rechtsbrecherische Beendigung der europäischen Flüchtlingskrise deutschen Regierungskrise CSU-Landtagswahl-Not schließen und heulen vor lauter hilflosem Zorn, daß eine Handvoll Rechtsradikaler jedes einzelne Grundrecht mit Füßen treten darf.
Gäbe es nicht die Initiative Seebrücke des Bundes! Deutschland nimmt bis Ende 2019 freiwillig alle Menschen auf, die im Mittelmeer aus Seenot gerettet werden!
(das Innen-, Sport-, Bau- und Heimatministerium konnte gestern kaum genug dementieren und YouTube-Accounts sperren lassen)
Bild: Screenshot der aktuellen Ausgabe des Spiegel. Ergänzend dazu ein paar Fakten
Zwei Artikel, die ich nicht mehr unterbringen konnte – Monika Bolligers Abschiedsartikel von der NZZ – Der lange arabische Winter und Alexander Betts, Guardian – What Europe could learn from the way Africa treats refugees.
Und, am Rande: Was steckt hinter cdu-bayern.de?
Barbara Kaufmann, Kurier (erstaunlich, nicht wahr?)- Die Satten und die Unzufriedenen
Anja Maier, taz – Er wird es wieder tun
Seehofers Masterplan. Nicht vergessen: Angela Merkel ist nach eigener Aussage mit 62,5 der 63 Punkten ganz und gar einverstanden.
Stellungnahme zu einigen der 63 Masterplan-Punkten von pro asyl
Renata Brito, AP – Spanish rescue ship told not to respond to distress call
UN-Support-Mission in Libya
Ich hoffe, viele Menschen lesen hier aufmerksam mit!
Eher nicht – mit nichts kann ich die Mehrheit meiner Follower so langweilen wie mit Flüchtlingen. Außer vielleicht noch mit Feminismus.
Auch insofern geht das EU-Konzept prima auf, denn über angeordnetes Elend und Menschenrechtsbruch mit Ansage wollen sehr viele nichts lesen. Die spalten das ab – eine Psychotechnik, die mir dafür nicht zur Verfügung steht.
Politiker, die von Flutwellen von Flüchtlingen sprechen und Internierungslager fordern, bedienen lediglich Emotionen, nicht den Verstand. Wie Sie wissen, ein uralte populistische Strategie, denn haben die Emotionen ein gewisses Level erreicht, ist der Verstand schwer zu erreichen. Hier hingegen ist das Lesen und Akzeptieren mit persönlichen Konsequenzen verbunden. Konsequenzen die viele Menschen tödlicherweise Weise nicht bereit sind zu denken oder gar zu ziehen. Es wäre zugleich ein Eingeständnis für bisherige Mittäterschaft, mindestens durch Passivität. Ich denke, dass ist einer der Gründe warum so viele Menschen nicht bereit dazu sind, sich auseinanderzusetzen. Umso wichtiger, dass es weiter versucht wird. Danke
Tut mir leid, daß Ihr Kommentar nicht sofort erschienen ist – entweder ein WordPress-Schluckauf oder Sie haben eine andere Emailadresse/Nick verwendet, in jedem Fall: welcome back und Sie haben vermutlich recht.
Thomas Spijkerboer (Professor für Migrationsrecht an der Universität Amsterdam), Guardian/Freitag – Schlepperstaaten
Owen Jones, Guardian/Freitag – Die einen lächeln, die anderen ertrinken
müde, ja. Das trifft es leider allzugut. Die Zerstörer unserer Werte, unserer Heimat scheinen eine unbändige zerstörerische Energie zu haben. Der demokratische Rechtsstaat wird zunehmend auf dem Altar einer fiktiven Sicherheit geopfert, die Werte von (Mit-)menschlichkeit und Anstand gehen zunehmend verloren. Ich habe das Gefühl, dass wir unaufhaltsam auf einen Abgrund einer unmenschlichen Dystopie zuschlittern, in der nur noch der Machterhalt der Regierenden um jeden Preis gilt, alles, was irgendwie abweicht als Gefahr betrachtet und schon beim geringsten Verdacht weggesperrt wird, alles Fremde nur noch Bedrohung und Gefahr ist, die Wirtschaft nur noch für wenige arbeitet und die meisten Menschen nur ausnutzt, Grundbedürfnisse auf Kosten aller zum Spekulationsobjekt weniger gemacht werden usw. Das macht mich mitunter so fürchterlich müde, dass ich kurz davor bin, dass mir alles sch…egal ist. Kaum hat man (soweit möglich) auch nur den kleinsten Erfolg erzielt, kommen drei neue Hiobsbotschaften, die unsere Gesellschaften noch weiter in den Abgrund ziehen. Da möchte ich mich gerne in mein Schneckenhaus zurückziehen und nie wieder rauskommen. Mir ist allerdings klar dabei, dass ich nur aufgrund meiner privilegierten Situation überhaupt so etwas wie ein Schneckenhaus habe…
Ja, müde. Und dabei hat die Dystopie für Sie und mich nicht mal richtig begonnen, was wiederum unsere privilegierte Situation beschreibt.
Nachtrag: meine Antwort gefällt mir ebensowenig wie Ihre beiden nur-nochs. Machtpolitik und am Gemeinwohl desinteressierte Wirtschaft haben noch nie irgendetwas anderes getan, als Machterhalt und Gewinn ihrer Protagonisten zu sichern. Trotzdem leben wir heute im friedlichsten, freiesten, sozialsten, sichersten, reichsten Europa aller Zeiten. Um das zu erreichen, waren Marathonqualitäten nötig und das ist heute nicht anders. Wenn nichts oder nur sehr wenig unmittelbar zum Besseren verändert werden kann, bleibt immer noch die Arbeit an der eigenen Denke, nicht nur als Vorraussetzung zur Handlung.
Ich habe eben eine interessante Deutschlandfunk-Nova-Sendung gehört – Wege aus dem europäischen Dilemma – vielleicht interessiert das Sie und @alle auch.
Ich merke es seit Monaten in meinem winzigen Hunsrückdorf. Die Rechten werden lauter und lauter. Wer heute gegen Özil ist, hat im Herbst AfD gewählt. Jetzt sagen sie mir, alle Bürger müssten das Unkraut vom Gehweg entfernen und selbst ich, der Wurlitzerpreisträger, der Dorfintellektuelle, den man hinter seinem Rücken „Professor“ nennt ( aber ich höre es, weil man den Spott immer hört), mache es um des lieben Friedens auch, obwohl ich nach all den Jahren in Berlin verrottete Bürgersteige gut finde. Und warum macht es der Taliban nicht? Warum muss vor dem Asylantenhaus, wie man es im Dorf nennt, der Gemeindearbeiter das Unkraut wegmachen? Als nächste Forderung kommt natürlich – ich weiß es und könnte jetzt schon kotzen – das allgemeine Straßenkehren für unsere Dorfasylanten. Sachleistungen statt Geld ist sowieso Mehrheitsmeinung. Kalt und hässlich ist es in diesen Sommertagen. Ungemütlich. Eklig.
Hm, das beschreibt so in etwa die Gründe, warum ich (obwohl mich ein Garten, weniger Lärm, dunkle Nächte glücklich machen würden) niemalsnienicht aufs Land ziehe.
“ Auch das immer wieder ins Spiel gebrachte Albanien sperrt sich gegen Lager auf seinem Staatsgebiet.“
(aus dem „Standard“-Artikel) Da weiß mensch echt nicht, ob lachen oder weinen…
Egal wo die Lager nun gebaut werden, die Medien sollten die konsequent „Internierungslager“ nennen.
Und wenn die EU-Repräsentanten noch nen Funken Humanität, Barmherzigkeit, Nächstenliebe… im Wanst haben sollte wenigstens die Seenotrettung von der EU übernommen, die Internierungslager von der EU geführt (und natürlich ausreichend ausgestattet) werden und wenigstens jede*r wo einen nach den immer mehr runtergefahrenen Bedingungen Asylschutz bekommen kann, kriegt den in EUropa. Das wäre so der Minimalstkonsens, aber selbst da glaube ich ned dran…
Daß sich Albanien sperrt, hat mit dem interessanten Regierungschef zu tun.
(dradio)
Sebastian Kurz (genau der Sebastian Kurz, der bei Angela Merkel 2015 um Aufnahme der in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge nachsuchte) möchte in nordafrikanischen Internierungslagern gar keine Möglichkeit zur Beantragung von Asyl.
(Wallstreet Online)
Außerdem will er einen EU-Afrika-Gipfel, bei dem es sicher nicht um Abschaffung der EU-Subventionen und um wirksame Verfolgung europäischer Steuerhinterzieher, Umweltverschmutzer, Menschenschinder gehen wird, sondern um Beratung mit den afrikanischen Staaten zu Flucht/Migration und deren Verhinderung. Wetten, daß in Zukunft jede Entwicklungs- und humanitäre Hilfe von der Rücknahme von Flüchtlingen/Migranten abhängig gemacht wird?
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Marsch_(Film)
„„Wir glauben, wenn ihr uns vor euch seht, werdet ihr uns nicht sterben lassen. Deswegen kommen wir nach Europa. Wenn ihr uns nicht helft, dann können wir nichts mehr tun, wir werden sterben, und ihr werdet zusehen, wie wir sterben, und möge Gott uns allen gnädig sein.“
Grübel seit heut früh, wie der Film hieß, ist von 1990…
Danke für den Hinweis auf die Böhmermannsche Spendenmöglichkeit und den NZZ-Artikel.
Kaum noch am äußeren Rand des Themas, aber in Gänze lesenswert – Matthias Dell, Freitag – Realitätsflucht. Die neue Ordnung
– der die Lage der Nation an der jüngsten Korrektur der Bundes-Statistik Opfer rechtsradikale Gewalt (von 76 auf 83 Tote) entlang erklärt:
Marian Schraube/BlattEins mit der Übersetzung des Zornausbruches von Alessandro Gilioli, L’Espresso Der Tod, den sich Europa verdient
Dominic Johnson, taz – Geeinte Stimme aus Afrika
Tja, Herr Oettinger – klirr, schade.
Ich wage mal eine Prognose; es wird dann wohl doch auf Libyen hinauslaufen mit den Internierungslagern; k.A. wer da unten nun so richtig und wo sowas ähnliches wie die Kontrolle hat, die suchen sich unter den Drecksäcken die am wenigsten stinkenden (den einen, dem hier ein Blog gewidmet wurde ist wohl jetzt doch zu böse…) raus, scheißen die mit Geld (und hoffentlich NICHT!!! mit Knarren/Munition) zu und kümmern sich um die Lager. Günstigenfalls haben manche mit politischen oder persönlichen Asylgründen (homosexuell, von der Familie verstoßen, wasweißich) ne Chance, in Europa zu landen, der Rest, hm, den gehts dann wohl wie den Palästinensern, den Syrern in der Türkei, die in die algerischen Sahara geflüchteten Sahrauhis usw. usf., die warten und warten und warten bis Weißnichtobichdasnocherlebe…
Noch einmal Dominic Johnson – Asylzentren in Afrika: Hochtrabender Blödsinn
Ich freue mich sehr, hier eine Mitstreiterin gefunden zu haben. Danke!
Herzlich willkommen, troleseblog!
Economist – On the edge of the Sahara, people mourn the decline of people-smuggling
Carolin Emcke, Süddeutsche – Geflüchtete ohne Zuflucht