Keine außergewöhnliche Härte

Parteien betonen gern die Wichtigkeit der Familie, Keimzelle des Staates, Fundament einer funktionierenden Gesellschaft.

Wir wollen Wahlfreiheit ermöglichen und die Schwachen schützen, die sich nicht um sich selbst kümmern können oder in Not geraten sind. Familienpolitik in Deutschland muss für die Menschen die richtigen Start- und Rahmenbedingungen schaffen, damit sie so leben können, wie es für die jeweilige Familie richtig ist. … Wir setzen super Akzente.

Insbesondere Ehe, Familie und Kinder garantieren den gesellschaftlichen Zusammenhalt und genießen daher zu Recht den besonderen Schutz des Staates.

Familien wollen eigenständig sein. Sie wollen für ihre Angehörigen sorgen, unabhängig von der konkreten Familienform. … Männer und Frauen wollen eigenverantwortlich leben, eine partnerschaftliche Aufgabenteilung, Zeit füreinander und für den Beruf, wirtschaftliche Unabhängigkeit, gute Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern und eine diskrimierungsfreie Arbeitswelt, in denen die gelebte Familienform keine Auswirkungen auf das Arbeitsleben hat. Um dies zu schaffen, brauchen alle Familienmitglieder den Zugriff auf Zeit, Geld und Infrastruktur.

Familien sollen in die Zukunft vertrauen können. Dazu muss der Staat ihnen sichere Rahmenbedingungen bieten, die größtmögliche Wahlfreiheit und Entfaltung ermöglichen.

Familie ist, wo Kinder sind! Im Fokus unserer Politik im Bundestag steht auch das Wohl jedes einzelnen Kindes. Wir ergänzen unsere Politik für starke Familien durch eine Politik, die Kindern eigenständige Rechte einräumt, sie gezielt fördert und schützt, wo Familien dies nicht leisten.

Falls es sich um deutsche Familien handelt.

Salah J. ist 31 Jahre alt, stammt aus Syrien und flüchtete mit seiner Familie in die Türkei. Seine schwangere Frau und eine kleine Tochter ließ er dort zurück und machte sich alleine auf den Weg nach Deutschland. Er lebt seit nunmehr zwei Jahren in einer Flüchtlingsunterkunft in Ratingen und hat mittlerweile ein Aufenthaltsrecht.

Allerdings gestand ihm die Ausländerbehörde nur den subsidiären Schutz zu, was nach den Änderungen des Asylrechts den Familiennachzug verbietet. …

… die Dauer des Verfahrens und die Situation wurden für Salah, seine Frau und die zwei Kinder unerträglich. Daher entschlossen sich Ehefrau und die Kinder, die Flucht über Meer zu wagen. Vor der türkischen Küste kam es am vergangenen Freitag (24.3.) zur Katastrophe. Das Boot kenterte und von den 20 Flüchtlingen an Bord starben elf in den Fluten, darunter Salahs Frau, das Baby und die dreijährige Tochter. Die Nachricht erfuhr der Syrer, als er versuchte seine Frau auf dem Handy zu erreichen und eine fremde Person sich meldete.

Die Leichen wurden in der Türkei identifiziert.

Zwei Jugendlichen aus Syrien (19 und 16 Jahre alt), die in Deutschland bereits als Flüchtlinge anerkannt sind, wird von der Deutschen Botschaft in Ankara ein Zusammenleben mit ihren jüngeren Geschwistern verwehrt. Den Eltern der Kinder werden Visa zum Nachzug zu ihrer 16-jährigen Tochter in Deutschland gewährt; allerdings müssen sie ihre beiden kleineren Kinder (10 und 8 Jahre alt) in Ankara zurücklassen. Eine außergewöhnliche Härte, so die Botschaft, läge für die Familie deshalb nicht vor.

Die Ablehnung wird unter anderem damit begründet, dass die bereits in Deutschland lebenden Jugendlichen keinen ausreichenden Wohnraum und Unterhalt für ihre jüngeren Geschwister sicherstellen könnten. Wörtlich heißt es in dem Bescheid der Botschaft:

»Soweit Ermessen eröffnet war, wurde dieses zu Ihren Ungunsten ausgeübt. Der Antrag muss daher abgelehnt werden.«

… In letzter Minute entscheiden sich die Eltern, ihre kleinen Kinder in Ankara bei Verwandten zurückzulassen und das Visum zu nutzen.

In Deutschland stellen die Eltern unverzüglich nach ihrer Einreise einen Asylantrag … Nun erst können sie für ihre bei Verwandten zurückgelassenen 8- und 10- jährigen Kinder bei der deutschen Botschaft ein Visum zum Familiennachzug beantragen.

… Der am 6. März 2017 gestellte Antrag wurde bis heute nicht beantwortet. Die durchschnittliche Wartezeit für einen Termin bei der deutschen Botschaft in Ankara beträgt 7 – 9 Monate.

Offenbar wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Kinderrechtskonvention, denen sich mein Vater- und Mutterland verpflichtet hat, durch spezielle Deutschenrechte ersetzt und keiner will es bemerkt haben.

Oder gar gewesen sein.


Foto (beschnitten): Dorothea Lange, Wikimedia Commons, gemeinfrei


6 Kommentare zu „Keine außergewöhnliche Härte

    1. Ja, bitter. Mir ging es wie tikerscherk: nicht wissen, ob heulen oder kotzen. Oder eben ein Blog.

      Zu Beginn der „Flüchtlingskrise“ sagte mir ein befreundeter Blogger (ein Jurist), daß diesmal nicht das Grundgesetz verstümmelt werden wird wie 1993 mit dem „Asylkompromiss“. Sondern, daß stattdessen an den Verwaltungsstellschrauben gedreht werden und sich das nicht weniger schrecklich auswirken wird. Ich wollte ihm das damals nicht glauben, aber er hatte sowas von recht. Der Unterschied zwischen beidem ist auch, daß es die Verwaltungsstellschrauben und ihre furchtbaren Auswirkungen nur selten in die Medien schaffen. Ich halte das inzwischen für beabsichtigt.

      Last but not least: herzlich willkommen eimaeckel!

  1. Tim Gerber, Migazin: Die Kinderleichen des Innenministeriums

    … Vor ihrer Flucht hat sie an der medizinischen Fakultät der Universität Aleppo studiert. Doch als ihrem Mann Salah J. als Reservist der syrischen Armee die Einberufung droht, flieht die Familie. In der Türkei müssen sie sich trennen; Salah kommt im Frühjahr 2015 nach Deutschland, die Familie will er bald zu sich holen, so hoffen sie.

    Doch das lässt auf sich warten. Erst nach zehn Monaten kann er seinen Asylantrag stellen. Und erst im September 2016 entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) darüber. Sie erkennt Salah J. lediglich subsidiären Schutz, die Flüchtlingseigenschaft wird ihm nicht zuerkannt, obwohl das Assad-Regime Männer wie ihn wegen „Entziehung von der Wehrpflicht“ aufs härteste bestraft.

    Mit Hilfe des Düsseldorfer Asylanwalts Jeremias Mameghani reicht er beim Verwaltungsgericht Düsseldorf Klage gegen das BAMF ein wie viele andere ähnlich betroffene. Die Männer wollen ihre Familien nachholen, doch genau das will ihnen die Bundesregierung und die große Koalition mit ihrem Asylpaket II verwehren. Mindestens bis März 2018 soll es den subsidiär Schutzberechtigten nicht erlaubt sein, ihre Familien, ihre Frauen und kleinen Kinder nach Deutschland nachzuholen. Die leben, wenn nicht gar noch im Bürgerkriegsland Syrien, meist in Lagern in der Türkei. Die erteilte Salah J. aber auch nach seiner Anerkennung als Schutzberechtigter in Deutschland kein Visum für einen Besuch bei Frau und Kindern, was ebenso wie die deutsche Aussetzung des Familiennachzugs gegen die Menschen- und Kinderrechtskonvention verstoßen dürfte.

    Als man diesem Gesetz zugestimmt habe, habe es noch geheißen, dass davon kaum Syrer betroffen seien, weil sie meistens als Flüchtlinge anerkannt würden, sodass ihnen auch weiterhin der Familiennachzug gewährt würde, beklagte der SPD-Innenpolitiker Rüdiger Veit denn auch bei einer Expertenanhörung im Bundestag zum Thema Familiennachzug. Doch kaum war das Gesetz unterschrieben, änderte das BAMF seine Anerkennungspraxis und verwehrt nun Syrern vehement den Flüchtlingsstatus, den sie vor der Aussetzung des Familiennachzuges noch anstandslos bekamen. Nach Beobachtung von Praktikern erhalten vor allem Betroffene, die aufgrund einer Anerkennung engste Familienangehörige nachholen könnten, die Anerkennung nicht, während Ledige und kinderlose Flüchtlingen sie nach wie vor bekommen.

    Für das Auswärtige Amt kommen derzeit unter den tausenden Betroffenen gerade einmal knapp 50 Fälle in Betracht, die derzeit mit einiger Erfolgsaussicht geprüft würden, trug ein Beamter im Innenausschuss vor.

    Und vor Gericht kommt diese humanitäre Klausel schon gar nicht zur Anwendung, wie ein kürzlich vom Verwaltungsgericht Berlin entschiedener Fall zeigt. Die 30. Kammer des Gerichts lehnte den Nachzug einer syrischen Mutter zu ihrem zwölfjährigen Sohn ab. Sie selbst habe die Trennung von ihrem – inzwischen stark unter der Trennung leidenden – Sohnes ja herbeigeführt, als sie ihn zusammen mit ihrem Bruder auf den Weg nach Deutschland schickte …

    Lesen sollte man auch den Brief, den Jeremias Mameghani an Thomas de Mazière geschrieben hat.

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