„psychisch auffällig“

Bei dem mutmaßlichen Täter handelt es sich um einen Deutschen, der Medienberichten zufolge aus dem Sauerland stammt und seit längerem in Münster lebte. Nach Informationen von SZ, NDR und WDR war der Mann, Jens R., psychisch auffällig.

Soso. Die Wahrscheinlichkeit, daß Sie, ja genau Sie meine ich, im Laufe Ihres Lebens eine zeitweilige oder dauerhafte psychische Störung erwerben, liegt – je nach Quelle – zwischen 25 und 50%. Ein Viertel bis die Hälfte aller Europäer waren, sind oder werden noch psychisch gestört sein, mögliche Auffälligkeiten inklusive.

Aber die rechtsradikale Hetze gegen die Anderen, gegen Geflüchtete, Menschen mit dunkler Haut und vor allem gegen Muslime ist längst so wirkmächtig, daß ein „psychisch auffälliger“ Täter kartoffeldeutscher Herkunft als beinahe gute Nachricht durchgeht.

In der öffentlichen Aufmerksamkeitsökonomie ist allenfalls eine Randnotiz, daß der mutmaßliche Täter in Münster auch schon mal in Pirna (Sachsen) in einem von Kameradschaftsnazis bewohnten Haus gelebt hat, auch zuvor schon gewalttätig war, verschiedene Schußwaffen und illegale Polenböller sein Eigen nannte und der Verdacht nahe liegt, daß er gestern in Münster einen islamistischen Anschlag vortäuschen wollte.

Keine 24 Stunden vorher:

Im südbrandenburgischen Cottbus ist am Freitag um 22 Uhr ein offenbar 25-jähriger Mann mit seinem Geländewagen in eine Gruppe von zehn Menschen gerast. … Der Polizei war der mutmaßliche Fahrer bereits zuvor aufgefallen. Am Freitagnachmittag hatte er Polizisten beleidigt, 1,17 Promille intus und rechte Parolen gegrölt. Zudem soll er, bevor er Freitagnacht auf den Fußgängerweg in die Menschentraube fuhr, auch an gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligt gewesen sein.

Wußten Sie übrigens, daß Angst und Wut zwei Seiten ein- und derselben psychischen Störungsmedaille sind? Angststörungen sind die sozusagen sozial kompatiblere Auffälligkeitsentscheidung, indem sich Panikattacken „nur“ gegen die eigene Person richten (es sei denn, Sie fühlen sich belästigt, wenn eine/r zittert, schweißüberströmt ist, keine Luft bekommt).

The Rosenblatts: note on “psychisch krank” und Münster

Es ist einfach besser, wenn einer krank war, als wenn man annimmt, jemand wollte gerne Gewalt ausüben. Wollte gerne töten. Vielleicht auch nicht ganz so gerne, aber doch gern genug, um sich nicht dagegen zu entscheiden. …

Die Tat wird zum Symptom der unterstellten Krankheit, deren Ursprung und Wirken in allein dem Täter verortet wird.

Sie wird nicht zum Symptom einer Gesellschaft, die es verhindert sich adäquat/bedarfsgerecht/sinnhaft mit sogenannt “psychisch Erkrankten” zu befassen, bevor eine Gewalttat passiert.
Sie wird nicht zum Symptom eines Gesundheitssystems, das vor allem eines systematisch tut: verhindern, dass Menschen so lange die bestmögliche und frei gewählte Unterstützung, Hilfe und medizinisch/therapeutisch hilfreiche Behandlung erhalten, bis sowohl die Symptome, als auch die ursächliche Problematik nicht mehr bestehen.

Sie wird nicht zum Symptom eines an vielen Stellen unzureichenden sozialen Hilfesystems.
Nicht zum Symptom der Ignoranz.
Nicht zum Symptom der Privilegien, die einzig dann entstehen, wenn man als “gesund”, “normal”, “allgemein nachvollziehbar” und allgemein “befähigt” gilt. …

Der Täter in Münster hätte jede Erkrankung der Welt haben können – keine einzige kann die Antwort auf die Frage nach dem Warum hinter der Tat sein.

Die psychotherapeutische Versorgung im fünftreichsten Land der Erde ist lausig, die Diagnose- und Behandlungsmethoden vieler Ärzte veraltet, die Wartezeiten auf einen adäquaten Therapieplatz ewig. Bei Fachärzten und Psychotherapeuten war die Lehrheilbehandlung nicht notwendigerweise erfolgreich und die Krankenkassen verordnen nach längstens 80 Stunden Therapie eine 2jährige Pause (es sei denn, man nimmt Psychoanalyse in Anspruch, dann und nur dann sind auch 300 Stunden möglich).

Aber was macht das schon, wenn rechtsradikaler Terror nicht nur nicht so genannt, sondern auch zur Diffamierung „psychisch auffälliger“ Menschen mißbraucht werden kann?

Schließlich ist unser Hauptproblem linksextremistischer und islamistischer Terror. Auf dem Weg zum Supergrundrecht Sicherheit kann die unantastbare Menschenwürde, deren Schutz alle staatliche Gewalt zu gelten hat, nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Denn: rechtsradikale Hetze gilt als „gesund“ und „normal“, sie ist längst salonfähig und politisch, medial, gesellschaftlich wirkmächtig.

 


Bild: Screenshot bei Twitter


24 Kommentare zu „„psychisch auffällig“

  1. Springer meldet, daß heute vier Männer aus dem Umfeld von Anis Amri festgenommen wurden und damit ein Anschlag auf den Berliner Halbmarathon verhindert werden konnte.

    In der Wohnung eines mutmaßlichen Komplizen des am Sonntag vom SEK überwältigten Verdächtigen haben speziell auf Sprengstoff trainierte Hunde im Keller angeschlagen. Ein ranghoher Polizeiführer sagte WELT: „Wir werten noch aus. Aber das war wahrscheinlich knapp.“

    Der Hauptverdächtige soll zur Durchführung seiner geplanten Bluttat zwei extra scharf geschliffene Messer besessen haben. Eine konkrete Gefahr hat den Informationen zufolge aber offenbar insofern nicht bestanden, als der Mann bereits seit Längerem unter Beobachtung der Sicherheitskräfte gestanden habe.

    1. Stichwort rechtsradikaler Terror:

      Die Bundesanwaltschaft lässt seit heute Morgen (8. April 2018) aufgrund von Beschlüssen des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs unter anderem die Wohnungen von acht namentlich bekannten Beschuldigten sowie weiterer nicht tatverdächtiger Personen in Berlin, Brandenburg und Thüringen durchsuchen.

      Die Beschuldigten stehen in dem Verdacht, eine rechtsterroristische Vereinigung gegründet und sich an ihr mitgliedschaftlich beteiligt zu haben (§ 129a Abs. 1 StGB). Darüber hinaus bestehen Anhaltspunkte für waffenrechtliche Verstöße.

      Festnahmen sind bislang nicht erfolgt.
      Die heutigen Durchsuchungsmaßnahmen stehen nicht im Zusammenhang mit der gestrigen Tat in Münster.

      Die heutigen Durchsuchungen dienen dazu, die bestehenden Verdachtsmomente zu objektivieren. Insbesondere soll geklärt werden, ob die Beschuldigten tatsächlich über Waffen verfügen. Vor diesem Hintergrund sind die GSG 9 und das MEK des Bundeskriminalamtes im Einsatz. Sie unterstützen die Beamten des Bundeskriminalamtes sowie der Polizeien der Länder Berlin, Brandenburg und Thüringen bei den heutigen Maßnahmen.

      Zunächst hatte die Staatsanwaltschaft Gera am 16. August 2017 Ermittlungen aufgenommen. Die Bundesanwaltschaft hat das dortige Verfahren am 24. Oktober 2017 übernommen und Ermittlungen unter anderem wegen des Verdachts der Gründung einer terroristischen Vereinigung (§ 129 a StGB) eingeleitet.

    2. Springer eben.
      Tagesspiegel:

      Es seien weder Sprengstoff, Waffen oder andere Beweismittel gefunden worden, mit denen sich der Anfangsverdacht auf Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat konkretisieren ließe. …Nach dem bisherigen Erkenntnisstand sei es eher unwahrscheinlich, dass die sechs Verdächtigen einem Haftrichter vorgeführt werden. … Meldungen, wonach diese geplant hätten, mit zwei extra scharf geschliffenen Messern Zuschauer und Teilnehmer des Laufs anzugreifen und zu töten, sind allerdings falsch. Am Rande des Sportereignisses hatte es am Adenauertunnel eine Messerstecherei gegeben, die mit dem geplanten Anschlag nach Tagesspiegel-Informationen offenbar nichts zu tun hatte.

      Polizeisprecher Thomas Neuendorf sagte am Sonntagabend der Deutschen Presse-Agentur, dass die Sicherheitsbehörden keine konkreten Hinweise gehabt hätten, dass der Halbmarathon Ziel eines Anschlags gewesen sein könnte. …

      In der Wohnung eines mutmaßlichen Komplizen sollen nach „Welt“-Angaben Sprengstoff-Hunde angeschlagen haben. Die Berliner Polizei teilte am Sonntagabend mit, dass im Zuge der bisherigen Maßnahmen kein Sprengstoff gefunden wurde.

  2. Es ist leider nicht nur eine „beinah gute Nachricht“. Die Medien zeigten sich erleichtert, dass der Täter ein Deutscher war. Das Bild oben, was in solchen Kontexten immer wieder auftaucht, fasst es treffend zusammen: ist der Täter weiß, kann er nur geistesgestört gewesen sein. Ist er nicht-weiß, war er ein Terrorist. Aber so ist ja alles gut, die Toten sind nicht durch Terror gestorben, sondern durch einen Irren. Wird für die Überlebenden und Angehörigen sicher ein großer Trost sein…

    Das Wort „geistesgestört“ verwende ich hier bewusst, da es die öffentliche Wahrnehmung von Menschen mit psychischen Erkrankungen immer noch am besten abbildet. Wahlweise auch irre oder verrückt, und in der öffentlichen Wahrnehmung vergleichbar mit Suchterkrankungen, die ja auch keine „richtigen“ Krankheiten sind – die sollen sich gefälligst mal zusammenreißen! Das wird man doch wohl noch mal sagen dürfen! (Entschuldigung, ich kann auf dieses Geschehen und die Berichterstattungen nur noch zynisch reagieren)

    Zum Glück hatte ich bislang noch keinen Bedarf an medizinischer Behandlung im Rahmen einer psychischen Erkrankung. Ich zweifle aber kein bisschen an der Diagnose des Gesundheitssystems in diesem Kontext – ein Grund liegt sicher darin, dass sich damit kein Geld verdienen läßt. Das Gewinnstreben im Gesundheitswesen ist eines der Grundübel des Systems.

    Aber davon ab. Sobald es rechte Gewalt ist, sind es Einzeltäter, „psychisch gestörte“ etc. Von Terror ist da nicht die Rede. Ist es linke oder religiös motivierte Gewalt, ist es Terror. Ein Paradebeispiel hier in Sachsen ist der jüngste Anschlag auf zwei Gaststätten in Wurzen, deren Betreiber einer örtlichen, rechtspopulistischen und (so weit ich weiß) mindestens latent fremdenfeindlichen BI angehören. Die Anschläge richteten Sachschaden an, wurden mit Werkzeug die Scheiben eingeschlagen und Buttersäure versprüht. Beide Lokale konnten noch am selben Tag wieder öffnen . Die Presse spricht von „Entsetzen“, „brutalem Anschlag“ und „fassungslosen“ Anwohnern. „Diese Anschläge auf die beiden Lokale in der Wurzener Innenstadt sind an Brutalität nicht zu überbieten.“ Oberbürgermeister Jörg Röglin (SPD). Die Polizei hat eine erfolglose Sofortfahndung einschließlich Straßensperren durchgeführt.

    Derzeit läuft in Dresden auch ein Gerichtsprozeß gegen den Mann, der vor einer Moschee in Dresden einen Sprengsatz hat hochgehen lassen. Dieser hatte auch schon mal bei Pegida geredet. Die Moschee diente auch als Wohnort des Imams und seiner Familie, nur durch Zufall wurde niemand verletzt. Die Presse berichtet von schlampigen Ermittlungen, fehlenden Sachverständigen. Da sind mir derart reißerische Berichterstattungen nicht erinnerlich. Natürlich ist die Aktion in Wurzen nicht gutzuheißen, aber wenn eine reine Sachbeschädigung durch Mittel, die nach Lage der Dinge nicht zu Personenschäden hätten führen können (der Zeitpunkt war mitten in der Nacht, als die Restaurants geschlossen hatten), derart drastisch beschrieben werden und andererseits die Gewaltfahrt in Cottbus nur eine lokale Fußnote ist, sind die Maßstäbe schon arg verschoben. Aber das ist halt Sachsen. Da wird auch schon mal ein Polizeivideo derart geschnitten, dass es die Anklage in Dresden gegen einen (linken) Pfarrer aus Jena stützt – als das ungeschnittene Video jedoch vorgeführt wird, fällt die Anklage in sich zusammen wie ein Kartenhaus…

    Zu Münster (wie soll man es nennen? Anschlag? Amokfahrt? Ich denke, es ist letztlich ein Anschlag.) zeigte ja Beatrix von Storch sogleich auf Twitter, wes Geistes Kind sie ist, als sie versuchte, einen Zusammenhang zwischen dem Anschlag von Münster und der Flüchtlingsaufnahme der letzten Jahre zu konstruieren oder vielmehr zu insinuieren. So nach dem Motto: Wären nicht so viele Flüchtlinge nach Europa gekommen, dann hätte es die Anschläge von NIzza und Berlin nicht gegeben, und dann wäre der Täter von Münster nicht auf die Idee gekommen. Wie widerlich und verdreht muss die Gedankenwelt sein, um auf so absurde Argumentationsketten zu kommen? Aber offensichtlich ist derart wirr-rechtes Gedankengut schon so weit verbreitet, dass man es eher achselzuckend zur Kenntnis nimmt und es als „typisch AfD“ abhakt.

    Ach ja, da bleibt nur noch Heine – Denk ich an Deutschland in der Nacht…. (auch wenn das Gedicht einen anderen Hintergrund hatte, aber die Anfangszeile passt wieder mal sehr gut).

    1. … dass sich damit kein Geld verdienen läßt.

      Mit guter Versorgung psychisch Erkrankter ließen sich volkswirtschaftliche Kosten verringern (Verrückte reißen sich ja nicht nur nicht zusammen, deren Faulheit kostet auch noch und zwar wie), die populärwissenschaftliche Standardquelle:

      Psychische Erkrankungen sind die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Seit 1976 steigen die Arbeitsunfähigkeitstage durch psychische Erkrankungen stetig an. Von 2005 bis 2012 stieg der Anteil um 97,1 Prozent. Frauen waren dabei deutlich häufiger betroffen als Männer. Das spiegelt sich auch im stationären Bereich (Krankenhaus) wider: Seit 1986 stieg die Zahl der Krankenhausfälle von 3,8 Fällen je 1000 GKV-Versicherte um das 2,5-fache auf 9,3 Fälle im Jahr 2005. Dieser Trend hat sich bis 2017 weiter fortgesetzt.

      Psychische Störungen sind eine wesentliche Ursache für Frühverrentung. Die wirtschaftlichen Belastungen durch diese Erkrankung sind wegen der Kombination aus hohem Verbreitungsgrad, frühem Einsetzen und oft ungünstigem, langem Krankheitsverlauf bedeutend. Die jährlichen Gesamtkosten wurden in Europa für das Jahr 2004 auf 240 Milliarden € geschätzt. Der größte Teil entfällt dabei auf die indirekten Kosten, die mit 132 Milliarden € beziffert werden können. In Deutschland betrugen die Kosten für psychische und Verhaltensstörungen im Jahre 2002 noch 280 Euro pro Einwohner, 2015 lag diese Summe bereits bei 540 Euro.

      Das für die Zahlenzyniker. Ich glaube übrigens nicht, daß es heute mehr psychisch Kranke gibt als in den 1970ern oder davor, sondern daß sich heute endlich mehr Leute Hilfe suchen.

      Die Medien springen bereitwillig und aus Gewinnstreben über die Stöckchen rechtsradikaler Hetzer und nur so wirkt der Täter als psychisch gestörter Kartoffeldeutscher als erleichternde, als fast beinahe gute Nachricht. Sven Stockrahm, Zeit Online versucht wenigstens, das Stöckchengehopse auszubremsen und mit ein bißchen Wissen zu unterfüttern: Psychisch labil, was soll das bedeuten?

    2. Weiß nicht, ob Du jetzt nicht die Geschichte in Jena (ist Thüringen ;) ) meinst, wo der (seit gefühlt mindestens 5 Dekaden) Stadtjugendpfarrer Lothar König (netter und lustiger Kerl btw, hab mit dem bei nem Punkkonzert in der „JG (Junge Gemeinde) Stadtmitte“ mal länger geplaudert) bei ner Demo den Lauti gefahren hat und angeblich einen Polizisten über den Haufen fahren wollte, der da rumsprang und den er nur touchierte. Hat seitdem keinen Lappen mehr, eigene Bude durchsucht und sein Büro im Pfarrhaus, da die eigene Aufnahmen erst bei der Verhandlung zeigen wollten. Seine Tochter sitzt im Landtag für die LINKE (Katja xyz-König, hab grad keinen Nerv, Links zusammenzusuchen) der wollen die Möhring-CDU/AfD auch an den Arsch, weil die den Typen aus nem Dorf bei Rudolstadt (geht schon näher gen Sachsen ;) ) kannte, der säckeweise Landwirtschaftschemikalien hortete.

      1. @ Hugo: Ja, ich meinte Lothar König. Am 13. Februar 2011 (der 13.2. ist der Jahrestage der Bombardierung Dresdens, da treffen sich hier die Neonazis, die Holocaustleugner, die Geschichtsverdreher etc., mit entsprechendem Gegenprotest) soll er von seinem Lauti aus zu Gewalt aufgerufen haben, dies sei auf eine Video dokumentiert. Die Vorwürfe waren immer wacklig, aber dann wurden (so las ich seinerzeit) ungeschnittene Videos „gefunden“, die Polizei hatte vorher immer nur geschnittenes Material gezeigt, und dann wurde das Verfahren ganz schnell beerdigt. Das geschnittene Material hat angeblich die Anklagepunkte gestützt. Ein Schelm, wer arges dabei denkt. Natürlich ermittelt die Polizei da nicht objektiv – der Feind steht hierzulande immer Links, und die Polizei müsste dann ja eingestehen, dass sie unbegründet handelt. Das will man natürlich vermeiden.

        1. Weiß ich, ich war auch 2011 auf der Demo, also der nichtreglementierten Gegendemo. Die reguläre wäre die „Meile der Demokratie“ gewesen.

  3. Stellvertretend zwei Orakeleien über den Täter:
    taz:

    Bei dem Mann soll es sich um den 1969 in Olsberg im Sauerland geborenen Jens R. handeln. Der beruflich offenbar wenig erfolgreiche Schmuck- und Industriedesigner soll psychische Probleme gehabt und auch schon einen Selbstmordversuch unternommen haben. Sowohl Münsters Polizeipräsident Hajo Kuhlisch als auch die Leitende Oberstaatsanwältin, Elke Adomeit, betonen aber, nach derzeitigem Stand gebe es „keine Hinweise auf einen politischen Hintergrund“ – auch kein rechtsextremer, über den in linken Blogs bereits ebenso spekuliert wird wie in Sicherheitskreisen.

    Kuhlisch erklärt, Jens R. habe nicht nur vier Wohnungen gehabt, zudem seien dem 48-Jährigen mehrere Fahrzeuge und ein Container zugeordnet worden. Wozu Jens R. vier Wohnungen gebraucht haben könnte, erklärte Münsters oberster Polizist nicht. Beim vermuteten „Täterprofil“ sei dies aber nicht völlig untypisch, sagte Kuhlisch – und spielte damit offenbar auf die psychische Erkrankung des Todesfahrers an.

    „Wir wissen nur so viel, dass die Tat offenbar mit der Person des Täters im Zusammenhang steht“, sagt auch Staatsanwältin Adomeit. Zwar habe es 2015 und 2016 in Münster drei und im sauerländischen Arnsberg ein Ermittlungsverfahren gegen Jens R. gegeben. Dabei sei es um eine Bedrohung, aber auch um Unfallflucht, Sachbeschädigung und Betrug gegangen. Alle Verfahren seien eingestellt worden.

    Zeit Online:

    Staatsanwaltschaft und Polizei schweigen sich aus und verweisen auf die laufenden Ermittlungen. Lediglich Innenminister Reul gibt einige Hinweise: Es gebe „eine Menge Erkenntnisse“, dass das Motiv in der Person des mutmaßlichen Täters liege. Später sagt er, dass es sich wohl um einen Einzeltäter handle, der psychisch auffällig gewesen sei.

    Dieser Mann, Jens R., ein Industriedesigner, lebte einige Straßen südwestlich des Hauptbahnhofs. Das unscheinbare Mehrfamilienhaus stammt wohl aus den Fünfziger- oder Sechzigerjahren. Die Fenster des Treppenhauses sind gelb verglast, die Rollos vieler Fenster zugezogen. Polizisten bewachen den Eingang, die anderen Hausbewohner haben ihre Wohnungen vorübergehend verlassen.

    Die Polizei hatte R.s Wohnung am Samstagabend durchsucht und fand dort neben einer nicht funktionsfähigen Maschinenpistole, Modell AK 47, sogenannte Polenböller, wie sie auch im Tatfahrzeug sichergestellt wurden. Auf den Namen des Tatverdächtigen war die Polizei recht schnell gekommen – der graue VW-Campingbus, der die Menschen überfahren hatte, gehörte Jens R.

    Der Satz der Staatsanwältin gefällt mir mit jedem Lesen besser: „Wir wissen nur so viel, dass die Tat offenbar mit der Person des Täters im Zusammenhang steht“

    1. Hans Leyendecker, Georg Mascolo, Christian Wernicke orakeln auf Seite Drei der Süddeutschen: Gegen den Rest der Welt (Paywall):

      Er ist kein Islamist und auch kein Rechtsradikaler.

      Jens Alexander R. war Möbeldesigner und galt als recht erfolgreich und auch vermögend, unter anderem weil er mal eine Lampe gebaut hat, mit der er sehr viel Geld verdienen konnte. Aber Jens R. war auch jähzornig und aggressiv. Einmal soll er mit einer Axt eine Wohnung zerlegt haben. Ein Mann mit psychischen Problemen offenbar, in den einschlägigen Dateien findet sich kein Hinweis auf Verbindungen in extremistische oder terroristische Kreise.

      Die Ermittler finden in der Wohnung eine sogenannte Dekorationswaffe, eine nicht funktionstüchtige Maschinenpistole vom Typ Ak-47. Zudem eine Gasflasche und Polenböller. In einer seiner drei Wohnungen, im ostdeutschen Pirna, stoßen die Ermittler nach Informationen von Süddeutsche Zeitung, WDR und NDR auf eine Art Lebensbilanz, in der R. vor allem seine Eltern angreift, ein Pamphlet, in dem er sich heftig über seine angeblich verpfuschte Kindheit äußert. Diese Beschreibung hat kein Datum. Sie beginnt mit dem Satz: „Ich bin jetzt 47 Jahre.“ Folglich muss er sie vor dem 1. Mai 2017 geschrieben haben, geboren wurde R. am 1. Mai 1969. Es ist das Schreiben eines kranken Mannes. Er macht seine Eltern für alles und jedes verantwortlich. R. behauptet, dass er „lange Zeit unter großen Schuldkomplexen, Verhaltensstörungen und Aggressionsausbrüchen gelitten“ habe. Schon im Alter von sieben Jahren habe er sich erstmals gewünscht, tot zu sein. Wenn andere Kinder zu Besuch gekommen seien, seien diese „sehr bevorzugt“ worden.

      Bei seiner Erzählung geht er bis in die frühe Kindheit zurück und schreibt, das er manchmal „weinend auf dem Kissen gelegen“ habe. Viele Zeilen lang geht es um den geplanten ersten Autokauf. Eigentlich habe er einen gebrauchten Porsche gewollt, sich aber nicht getraut, diesen Wunsch zu formulieren. Die Eltern hätten seine Wünsche abgelehnt und ihm einen „neuen, hässlichen Polo-Kastenwagen“ vorgeschlagen. Er sei „nervlich zerrüttet“ gewesen, schreibt R. „Oft brach ich schweißüberströmt in meiner Wohnung zusammen und betäubte mich ständig mit Alkohol.“ Dann habe er seinen Weg gesucht. Zivildienst in einem Krankenhaus im Sauerland, dann sei er Designer geworden. Die Kurse habe er mit der Note Eins abgeschlossen. Seine Lebensgeschichte habe er der Polizei und einem Psychiatrischen Dienst erzählt. 2014 sei er mit einem kleinen Beil in der Wohnung der Eltern aufgetaucht und habe „verzweifelt das Mobiliar zerstört“. Er habe aber niemanden angefasst. Auch sei er an der Wirbelsäule operiert worden. Der Arzt habe die Operation verpfuscht, danach sei er „behindert“ gewesen.

      Ein Mensch macht alle und jeden für sein Unglück verantwortlich. Dass seine Sicht der Dinge stimmt, daran hatte er keinen Zweifel: „Um die Wahrheit darzustellen“, schreibt er, habe er „namhafte ausgebildete Psychologen aufgesucht und anerkannte Lügendetektortests durchgeführt“. Nach mehreren Auswertungsphasen seien die „größtmöglichen Wahrheitsparameter“ seiner Aussagen festgestellt worden. Die Ermittler finden außer diesem Text auch noch einen Abschiedsbrief, den R. schon am 29. März an etliche Bekannte per E-Mail verschickt hat, mal mit, mal ohne Lebensbeichte. Auch die Polizei bekommt eine Version davon, sie wertet sie aus, und kommt zu dem Schluss, dass der Verfasser möglicherweise Suizid begehen wolle. Beamte machen sich auf die Suche nach R., finden ihn aber nicht. Es gibt in dieser Mail keinen Hinweis, dass er den Anschlag begehen wollte. Im Gegenteil, er schreibt, dass er noch nie Gewalt gegen Personen ausgeübt habe.

      Dem Sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt Münster war Jens R. jedenfalls schon länger bekannt, ebenfalls der Polizei. Bei früheren Einsätzen fiel er als „nervenkrank“ und „suizidal“ auf. Fünf Verfahren gegen ihn wurden in den vergangenen Jahren eingeleitet, wegen Bedrohung, Sachbeschädigung oder unerlaubtem Entfernen von einer Unfallstelle. Alle Verfahren sind eingestellt worden. Auch mit Ärzten hatte R. offenbar Schwierigkeiten, gegen mehrere erstattete er Anzeigen.

      Die Ereignisse jedenfalls scheinen nach bisherigem Stand eine Art Amoklauf zu sein, der oft mit der Selbsttötung endet. Der Amoklauf kann Ähnlichkeiten haben mit dem, was Polizisten den „erweiterten Suizid“ nennen, eine Formulierung, die in der Schweiz schon mal zum „Unwort des Jahres“ erklärt wurde. Es beschreibt die Entscheidung, nicht allein aus dem Leben zu scheiden, sondern andere mit in den Tod zu reißen. Bei Suiziden gilt die Regel, äußerst zurückhaltend zu berichten, die Forschung kennt viele Beispiele dafür, dass solche Berichte Nachahmer motivieren können. Bei Amokläufen ist es schwieriger, es geht nicht nur um eine Person, es gibt Opfer, denen öffentliche Anteilnahme auch guttut.

      Lange haben Journalisten auch darüber diskutiert, ob man etwa den Namen des German-Wings-Copiloten Andreas Lubitz nennen durfte und sollte – und sein Foto zeigen. Der offenbar psychisch kranke Mann brachte eine Maschine voller Menschen zum Absturz. Große Schlagzeilen können auch bei solchen Taten zum Nachahmen motivieren, Menschen mit psychischen Problemen allerdings auch stigmatisieren. Es gilt also besondere Vorsicht, wenn es um die Tat einer verzweifelten, vermutlich kranken Person geht, die sich und anderen das Leben nimmt.

      Die besondere Vorsicht der Süddeutschen beschränkt sich so ziemlich auf das Verstecken hinter der Paywall und „nervenkrank“ finde ich auch ein sehr schönes Wort °_O

    1. Nur, daß nicht jede psychische Auffälligkeit unauffällig ist (sofern z.B. Depressive oder Angsterkrankte Wert darauf legen, gelegentlich die Wohnung zu verlassen, z.B. zum Einkaufen). Vermutlich leben sehr viele psychisch Kranke, die unter ihrer Erkrankung leiden, extrem zurück gezogen, schämen sich durchs Leben und geben dem Begriff Anpassung eine neue Bedeutung. Während es andererseits beste Voraussetzung zu einer Manager- oder Politikerkarriere ist, eine narzisstische oder psychopathische Persönlichkeitsstörung zu haben und pflegen.

      Der Unterschied: erfolgreiche Karrieristen leiden nicht an ihrer psychischen Auffälligkeit, sondern finden sich unausgesetzt gesellschaftlich bestätigt. Nicht jede/r Deviante wird einen Kopf kürzer gemacht. Auch erfolgreiche Terroristen werden Freiheitskämpfer o.ä. genannt.

  4. Grundsätzlich sollte die Polizei da nicht mehr rausgeben als die Nachricht: „In Münster ist Jens R. mit einem VW-Transporter in ein Straßencafé gerast und erschoß sich danach. Es gab mindestens zwei Tote und mehrere Verletzte. Näheres gibt die Polizei/Wasauchimmerstaatsorgan am Dienstagmorgen in einer Pressekonferenz bekannt.“

    1. Die Polizei hat kaum mehr bekannt gegeben, außerdem auf Twitter inständig darum gebeten, daß keine Spekulationen, Fotos oder Videos verbreitet werden. Gegen Gewinnstreben der Medien und gegen Gehetze der Hetzer ist auch die Polizei machtlos. Denn das öffentliche Interesse ist auch dann eine Hausnummer, wenn es lediglich um nackte Sensationsgeilheit und um Lust an fremdem Leid geht. Wie beim sprichwörtlichen Unfall auf der Autobahn, der regelmäßig zu Staus und Unfällen auf der Gegenfahrbahn führt, weil man einfach das Geglotze nicht lassen kann.

      In Münster hat sich die Polizei jedenfalls nicht an Hetze und Angstlust-Fütterung beteiligt, anders als im schönen Sachsen: Wer nicht zählen kann, muss hetzen. „Zuwanderer“ in der Sächsischen Kriminalstatistik (<- das aber nur am Rande)

      1. Und woher hatten dann die Medien schwuppdiwupp den halben Lebenslauf von Jens R.? Irgendeiner bei den Staatsorganen muß da was erzählt haben. Wenn der vereinsamt war, gibts auch nicht soviele Leute, die da Konkretes wie die Gerichtsverfahren, die der Typ am Hals hatte, wissen können. Die muß mensch auch erstmal auftreiben, also die Bekannten/Verwandten, die müssen auch noch so blöd? naiv? sensationsgeil? wasweißich sein, zu plaudern.
        Weiß nicht, ich warte da wirklich erstmal ab, bis „Seriöses“ kommt, was jetzt keine Kritik an der Intention zu dem Blog, also das Aufzeigen von: „Bekloppter macht was Beklopptes weil er bekloppt war, ich bin zum Glück normal“ und der Täter damit aus dem „gesunden Volkskörper“ exkludiert wird, ist, liebe Dame.

        Wenns um das Horten von Chemikalien geht, wird der Verdächtige gleich als „Linker“ aus jenem ausgeschlossen und jede/r derdie den kennt in Sippenhaft genommen (s.o., Katharina König-Preuss): https://www.mikemohring.de/index.php?id=21&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1582&tx_ttnews%5BbackPid%5D=13&cHash=cbbf94b610474e31e8b4aca90ccb1e64
        “ „Es ist offensichtlich, dass wenigstens einer der Tatverdächtigen im linken Antifa-Milieu verankert war. Angesichts der Dimension des Fundes liegt ein linksterroristischer Kontext im Bereich des Möglichen. Allein deshalb müssen alle Alarmglocken schrillen“ (usw.,usf.)“
        Antifaschisten sind also bekloppt, weil sie Linke sind, Islamisten per Zugehörigkeit zur weiten Welt des Islam und demzufolge sind beide nicht Deutschland. Ein deutscher „Nichtlinker“ oder „Nichtmuslim“ der Scheiße baut, hm da kommts drauf an wens trifft, wenns „richtige Deutsche“ erwischt, wars ein „armer Irrer“ und „wir“ lehnen uns leicht angespannt zurück…
        Mein erster Gedanke als ich am Sonnabend abend den Rechner anhatte, war: „Woher hatte der Trottel ne Knarre?“ Geht in allem, was mensch über den so erfahren hat die letzten zwei Tage, unter.

        1. … was jetzt keine Kritik an der Intention zu dem Blog, also das Aufzeigen von: „Bekloppter macht was Beklopptes weil er bekloppt war, ich bin zum Glück normal“ und der Täter damit aus dem „gesunden Volkskörper“ exkludiert wird, ist …

          Ich fürchte, Sie haben die Intention zu dem Blog allenfalls teilweise verstanden. Das tut mir leid, ich kann’s aber nicht ändern.

          1. „Ich fürchte, Sie haben die Intention zu dem Blog allenfalls teilweise verstanden.“
            Weil ich „Bekloppter“ schrieb statt „psychisch auffällig“? Auf letztere Floskel geb ich nix, so wird heute (gefühlt) jedes zweite Kind abgeurteilt weils nicht ganz so wie ein Uhrwerk funktioniert. Wie in dem im Hautblog zitierten Artikel: „Die Tat wird zum Symptom der UNTERSTELLTEN Krankheit, deren Ursprung und Wirken in allein dem Täter verortet wird.“
            Leute mit Depression, Schizophrenie etc. versuchen so lange wie möglich zu funktionieren; die Leute merkens erst, wenn die nicht mehr rundlaufen, da sitzen die Betroffenen aber schon sehr tief in der Scheiße. „Selbstmedikation“ mit der legalen Volksdrogen Alk oder auch diverse Medikamente wie Diazepame und Schlafmittel, welche von jedem Arzt verschrieben werden können und viele Leute (zumeist Frauen) fressen die auch wie Drops ist halt state of the art. Ohne jetzt mein „gefährliches Halbwissen“ in Neurologie, Pychologie und Psychatrie weiterzutippen; mensch kann auch „ganz normal“ eine größere Portion Matsch am Paddel haben ohne daß da außer (vermeintlichen) Tranqulizer (selbst)medikamentös (Saufen, Tabletten) korrigiert werden kann und wo mensch eher (professionelle) soziale Korrektoren braucht.
            Also wenn der Typ mal die Bude seiner Alten zerlegt hat, isser entweder ein Scheißkind gewesen oder die Alten haben in der Erziehung versagt. Vielleicht wurde der auch gemobbt, suchte deswegen die Nähe zu Faschos blablabla, alles blöd, im Endeffekt aber alles scheißegal.
            Weiß nicht, ob mensch da ne (zukünftige) Stigmatisierung „wirklich“ psychisch Kranker, die sich Hilfe gesucht haben, mal ne Zeit in der Klapper waren, etc. sehen muß. Die Medien sollten mit so Floskeln wie „psychisch auffällig“ sehr sparsam umgehen, weil das erklärt alles oder nix ist also Blabla.
            (Die ganzen „“ und Klammern beachten ;) .)

            Und: „Denn: rechtsradikale Hetze gilt als „gesund“ und „normal“, sie ist längst salonfähig und politisch, medial, gesellschaftlich wirkmächtig.“ (Oben, Dame) Ist erst nicht seit AfD, -gida, PRO Neuschwabenland, Bündnis Zukunft Dark Side Of The Moon usw. so sondern war in einem erheblichen Prozentsatz des Volkes nie weg, auch nicht bei vermeintlichen Intellektuellen. Botho Strauß in den 90ern, der Historikerstreit mit Fest und weißausderKaltenned wie der hieß (80er?!?) usw. usf.

        2. Und woher hatten dann die Medien schwuppdiwupp den halben Lebenslauf von Jens R.?

          Dazu Kurt Kister in der Süddeutschen (Print):

          Die Vernetzung von Abermillionen Menschen über Taschentelefone bringt mit sich, dass die Herstellung von Öffentlichkeit theoretisch keine Grenzen mehr kennt. Für auf die Öffentlichkeit zielende Verbrechen heißt dies: Je blutiger sie sind, je sensationeller ihre Umstände (Amok in einer friedlichen Kleinstadt zum Beispiel oder Geiselnahmen in einem Supermarkt), desto schneller und weiter werden sie sich verbreiten. Dies gehört zum Kalkül islamistischer Mörder, zur Planung rechtsradikaler Terroristen – aber eben auch zu den Tatgedanken eines Selbstmörders, der die letzte, vielleicht einzige, große Aufmerksamkeit sucht.

          Nein, das bedeutet nicht, dass „das“ Internet „schuld“ ist an monströsem Terrorismus oder an blutigen Handlungen von Einzeltätern. Aber solche Taten finden eben nicht mehr nur vor dem Hintergrundrauschen durch vermeintliche Massenmedien statt. Heute ist jeder sein eigenes Massenmedium, und das virtuelle Dabeisein steht im Vordergrund bei solchen Ereignissen. Etliche dieser herostratischen Taten werden nur deswegen verübt, weil sie jene unbegrenzte Öffentlichkeit erzeugen. (Herostratos zündete 356 v. Chr. den Weltwunder-Tempel in Ephesos an, um in die Geschichte einzugehen. Es ist ihm gelungen.)

          … Und wer darauf hofft, dass bei der Verbreitung und Bewertung eines solchen schrecklichen Geschehens Zurückhaltung geübt werde, der hat noch nicht verstanden, dass auch Herostratos heute ein Smartphone hat.

  5. Wichtige Überlegungen zum Thema. Erinnert mich etwas an die Berichterstattung zum Flugzeugabsturz in Spanien, als der Pilot das Passagierflugzeug gegen einen Felsen lenkte. Da wurde geschrieben, dass der Täter depressiv gewesen sei…..das war auch im höchsten Grad diskriminierend gegen Menschen mit Depressionen. Ich meine, depressiv zu sein ist die normale Reaktion auf den Weltzustand. Alles andere ist schon maßlose Verdrängung …..

    1. Ich meine, depressiv zu sein ist die normale Reaktion auf den Weltzustand. Alles andere ist schon maßlose Verdrängung …..

      Das ist – mit Verlaub – Unsinn. Selbstredend gibt es am Weltzustand jede Menge zu verbessern und die Kritik an vorenthaltener Teilhabe, Willkür, Armut, Unfreiheit, Ungerechtigkeit kann gar nicht hart genug ausfallen. Wenn Sie aber Unbehagen am Weltzustand für Depression halten, sind Sie eins vermutlich nicht: depressiv.

      Der German-Wings-Pilot hatte u.a. ein SSRI-Medikament intus und flog trotz empfohlener Einweisung in die Psychiatrie (Verdacht auf eine psychotische Episode), die Krankschreibung war nicht an German Wings weitergegeben worden. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer haben als mögliche Nebenwirkung, daß die aufputschende Wirkung vor der depressionslindernden Wirkung einsetzt und genau dadurch ein Suizid, bzw. ein Homizid überhaupt erst möglich wird. Bei Depressiven ist plötzliche Munterkeit und Aktivität u.U. ein höchst alarmierendes Warnsignal oder anders gesagt: vielen Depressiven fehlt zum Suizid ganz einfach die Energie. SSRI-Medikamente werden gegen Depression trotzdem verschrieben wie die Smarties – u.a. das meinte ich mit lausiger Versorgung und mit veralteten Diagnose- und Behandlungsmethoden.

  6. Ronen Steinke, Süddeutsche im Interview mit dem Psychiater Thomas Pollmächer:

    SZ: Herr Pollmächer, was stört Sie an der Aussage, dass die Tat in Münster von einem psychisch auffälligen Deutschen begangen wurde?

    Thomas Pollmächer: Wenn in der Öffentlichkeit betont wird, dass der Täter psychische Probleme hatte, dann wird damit ein Zusammenhang insinuiert: eine Nähe zwischen psychischer Erkrankung und bösartigem Verhalten. Dieser Zusammenhang existiert statistisch nicht. Und es ist extrem stigmatisierend gegenüber psychisch Kranken, wenn sie sich mit solchen Tätern in einen Topf geworfen sehen.

    SZ: Nach solchen Taten liegt oft der Gedanke nahe: Der Mensch hätte mit einer vernünftigen Behandlung von der Tat abgehalten werden können.

    Thomas Pollmächer: Ja. Das stimmt sicher oft. Umso wichtiger ist es, der Stigmatisierung von psychisch Kranken entgegenzuwirken. Je größer die Gefahr ist, dass ein Hilfesuchender von der Gesellschaft gleich als verrückt oder gar gefährlich abgestempelt wird, desto höher sind die Hürden, die verhindern, dass Menschen rechtzeitig Hilfe in Anspruch nehmen.

    So einfach wäre es…
    Gäbe es nicht jede Menge durchgeknallte Journalisten und eine voyeuristische Öffentlichkeit – Boris Rosenkranz, Übermedien über (beispielhaft) – Live: Alles, was n-tv und Welt nicht so genau wissen

  7. Rainer Woratschka, Tagesspiegel: Psychisch Kranke müssen monatelang auf Behandlung warten

    Bis zu einer Behandlung bei einem Kassentherapeuten müssen sich psychisch Erkrankte hierzulande im Schnitt 20 Wochen gedulden. Das geht aus einer Umfrage der Bundespsychotherapeutenkammer hervor, die an diesem Mittwoch veröffentlicht werden soll.

    20 Wochen Wartezeit seien „unzumutbar“, sagte Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer. Als Ursache dafür sieht er eine veraltete Bedarfsplanung, die zuletzt 1999 aktualisiert worden sei. Um eine ausreichende Versorgung der Patienten zu gewährleisten, fehlten bundesweit 7000 Kassensitze. Der Gesetzgeber hat zwar einen überarbeiteten Bedarfsplan bis Anfang 2017 gefordert, doch der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss kam bislang nicht zu Potte. Man warte noch auf ein Gutachten, heißt es dort. Die neue Bedarfsplanung könne erst 2019 in Kraft treten.

    Stattdessen trat zum April 2017 eine Strukturreform in Kraft, die Patienten den Zugang zur Behandlung erleichtern soll. Tatsächlich kommen Menschen in psychischen Krisen nun – auch durch Vermittlung über Terminservicestellen – schneller an ein Erstgespräch bei einem Therapeuten als früher. Bis allerdings eine ambulante Regeltherapie beginnt, vergehen nach wie vor Monate. Und aus der Sicht der Behandler ist die Neuregelung auch kontraproduktiv: Die Verpflichtung zu zeitnahen Erstgesprächen blockiere Termine, die sonst für Behandlung genutzt werden könnten.

    Bei einem Kassentherapeuten = bei irgendeinem Kassentherapeuten. Das ist im Zweifel so, als wenn Sie wegen einer Hauterkrankung zum Augenarzt gehen müssen. Wer keine Feldwaldwiesenkurzzeitverhaltenstherapie, sondern z.B. eine gezielte Traumatherapie braucht, wartet auf einen Therapieplatz wesentlich länger als 20 Wochen.

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