Das Lager als fremder Planet

UNHCR und World Food Program haben die Essensrationen für rund 490.000 Flüchtlinge in kenianischen Lagern um ein Drittel gekürzt. Nicht, weil die Flüchtlinge wegen übermäßiger Leibesfülle Diät halten müßten, sondern weil die für den Betrieb der Lager in den nächsten 6 Monaten nötigen 24 Millionen Euro nicht bezahlt wurden.

Erneute Unterfinanzierung, obwohl die Vereinten Nationen schon vor 6 Monaten warnten, der Welt stehe die größte humanitäre Katastrophe seit dem 2. Weltkrieg bevor, wegen der Gefahr von Hungersnöten in Sudan, Somalia, Nigeria und Yemen. 20 Millionen Menschen sind wegen menschengemachtem Hunger und ausgebliebenem Regen in Lebensgefahr.

Zu den kenianischen Lagern gehört Dadaab, das im letzten Jahr seinen 25. Geburtstag feierte – das zeitweise größte Flüchtlingslager der Welt. Dadaab wurde 1991 in der Halbwüste im Nordosten Kenias an der Grenze zu Somalia für 90.000 fliehende Somalis eingerichtet. 2011 – Hungersnot am Horn von Afrika – lebte dort mehr als eine halbe Million Flüchtlinge. Das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl von Nürnberg, auf 13.4 Quadratkilometern. Nürnberg hat eine Fläche von knapp 187 km2.

Ende 2013 unterzeichneten der kenianische und der somalische Aussenminister ein Abkommen zur freiwilligen Rückkehr nach Somalia. Im April 2015 kündigte der kenianische Vizepräsident Ruto an (nach dem Al-Shabaab-Anschlag auf die Universität in Garissa mit 147 Toten), Dadaab binnen 3 Monaten schließen und die Grenze zu Somalia mit einer Mauer verschönern zu wollen. Terror-Gefahr für kenianische Bürger liegt natürlich besonders nahe, indem 80% der Lagerinsassen Frauen und Kinder sind. 60% sind Minderjährige, von denen knapp die Hälfte die Möglichkeit erhält, eine Schule zu besuchen.

Die kenianische Regierung betrachtet die Flüchtlinge nicht als zu schützende Bevölkerung.


 

Ben Rawlence (Autor von Stadt der Verlorenen) im Gespräch mit Dieter Kassel, d-radio (Juni 2016):

Rawlence: Niemand möchte gerne in Dadaab leben. Am wenigsten die Flüchtlinge, die dort festsitzen, in diesem Gefängnis in so einer heißen Wüste. Aber der Grund, warum es weiter besteht, ist, dass die Menschen keine anderen Möglichkeiten haben. Sie können nicht zurück nach Somalia, weil dort noch Krieg herrscht und obwohl Kenia weiterhin darauf besteht, dass Somalia ein friedliches Land sei, ist das nicht der Fall.

Wir sehen derzeit Menschen von Somalia nach Dadaab wiederkehren, die versucht hatten, nach Somalia zurück zu gehen, dort aber gesehen haben, dass die Lage überhaupt nicht friedlich ist, dass Al-Shabaab noch immer da ist und weiterhin versucht, ihre Kinder zu rekrutieren. Nach Kenia können sie nicht, weil Kenia diese Flüchtlinge nicht integrieren will und der Rest der Welt will sie auch nicht haben. Der Grund dafür, dass diese Stadt seit 25 Jahren existiert, liegt also genau darin, dass es keine einfachen Antworten gibt. …

Am besten kann man sich das Lager als fremden Planeten vorstellen – es sieht ein bisschen aus wie auf dem Mars, ein bisschen wie unser Leben hier auf diesem Planeten, aber gleichzeitig sind diese Leute so abgetrennt von uns, sie haben kaum Verbindungen zum Rest der Welt.

Sie haben dadurch fremde Charaktere entwickelt, sie haben seltsame Vorstellungen von sich selbst, auch weil ihr Hirn nicht allzu weit in die Vergangenheit blicken kann, wegen des Kriegstraumas, aber auch nicht sehr weit in die Zukunft, weil die Zukunft so hoffnungslos und endlos wie die Gegenwart erscheint. Und in der Gegenwart können sie auch nicht richtig heimisch werden, weil die aktuelle Situation in dieser Stadt ohne richtige sanitäre Anlagen, in der sie nicht arbeiten können, wo sie von Trockennahrungs-Rationen der UNO abhängig sind, weil diese Situation so schrecklich ist. …

Kassel: Existiert dieses Flüchtlingslager nicht deshalb, weil es der Welt die Möglichkeit bietet, diese Menschen und diesen Konflikt zu vergessen?

Rawlence: Ich glaube nicht, dass das genau der Grund ist, warum es existiert, denn diese Menschen haben ja keinen anderen Ort, an den sie gehen könnten, und das internationale System hat diesen Weg als mögliche Hilfsform für sie festgelegt.

Eine der Nebenwirkungen davon, diese Leute in dieser so schwer erreichbaren Wüste zu halten, ist natürlich, dass man sie in der Tat vergisst. Dass man den Krieg in Somalia vergisst. Aber weil wir über so lange Zeit zugelassen haben, dass dieser Ort vergessen wird, schleicht sich Dadaab jetzt auf anderem Wege in unser Bewusstsein: Viele der Menschen, die letzten Monat auf dem Mittelmeer gestorben sind, in einem der Boote, dass voll mit Somaliern war und gekentert ist, kamen aus Dadaab.

Die Leute haben begonnen zu merken, dass das Leben im Camp ihnen keine Zukunft bietet und sie fangen an, andere Reisen anzutreten – nach Südafrika, in die Golfstaaten, nach Europa, einige gehen sogar über den Atlantik nach Brasilien und Nordamerika. Wir können diese Camps also eine Zeit lang vergessen, aber früher oder später werden sich die Menschen bemerkbar machen.

Kassel: Die Idee ist ja eigentlich, Menschen auf der Flucht einen Ort der Sicherheit zu geben. Aber Dadaab ist kein sicherer Ort. Warum gelingt es nicht, dieses Lager wirklich zu kontrollieren?

Rawlence: Die internationalen Organisationen und die kenianische Polizei wollen diesen Ort nicht wirklich kontrollieren. Ihr Hauptanliegen ist nicht das Wohlergehen der Flüchtlinge, das Hauptanliegen der kenianischen Regierung ist die innere Sicherheit. Sie sehen die Flüchtlinge als eine potentielle Bedrohung. Es gab viele öffentliche Bekanntmachungen, in denen die Flüchtlinge „Terroristen“ genannt wurden und Dadaab als Hafen für Terroristen bezeichnet wurde – und das stimmt einfach nicht.

Das Seltsame an diesem Camp ist, dass dieses eigene Leben dort entstanden ist. Nach dieser liberalen, eurozentrischen und pro-amerikanischen Sichtweise werden diese Leute als außerhalb des Welt-Systems stehend betrachtet. Aber es gibt ein internationales System, es gibt Demokratie – im Buch kommt ein junger Mann namens Towane vor, er ist einer der Anführer der Jugend im Camp. Er hat eine kleine Hütte, die weiß gestrichen ist, wo er sich mit den Leuten trifft, die er seine „Regierung“ nennt, sein Kabinett, er nennt sie das weiße Haus und macht immer Witze darüber, dass er eines Tages sein wird wie Obama.

Das sind also Leute, die von der Welt marginalisiert wurden, aber sie versuchen verzweifelt sich wieder so zu fühlen, als seien sie ein Teil von ihr. So haben sie Gesetzgebung und Polizeigewalt selber in die Hand genommen. Als es tatsächlich mal terroristische Anschläge im Camp gab, hat nicht die kenianische Polizei darauf reagiert, weil sie Angst hatte, es war Towane und seine Gruppe junger Leute, die als Freiwillige auf den Straßen patrouillierten, um nach Landminen zu suchen und sicherzustellen, dass die Laster mit den Nahrungsmittel-Lieferungen ins Camp fahren konnten und so weiter. …

Kassel: Die Ankündigung, das Camp schließen zu wollen, wird von einigen auch so interpretiert, dass Kenia mehr Geld einfordern will. Ist das die Zukunft, dass es immer mehr Orte wie in Dadaab gibt, weil der Westen sich einfach frei kauft?

Rawlence: Mit einem Wort: Ja. Ich glaube, das ist die Zukunft, aber es ist auch die Vergangenheit – die Tatsache, dass Dadaab solange existiert, ist eine Folge der Lager-Politik der Vereinten Nationen. Dieser Politik zufolge kann eine Nation, die sich nicht um Flüchtlinge in ihrem Gebiet kümmern möchte, die Vereinten Nationen einladen, ein Camp zu errichten und diese Leute abgeschirmt vom Rest des Landes zu halten. Was wir jetzt sehen, ist dass diese Camps über viele Jahre bestehen.

Wie Sie schon sagten, Dadaab ist zwar das größte Lager dieser Art, aber nicht das einzige. Es gibt Lager, die existieren seit 40 Jahren, an der Grenze zwischen Thailand und Burma, es gibt Gaza, was jetzt eine Stadt ist, die seit 60 Jahren existiert. Wir haben andere Camps in Äthiopien, im Sudan, im Tschad, Darfur…

Wir sehen eine Art Archipel von Stadt-Staaten, die schon eigene Nationen, eigene Länder voller Menschen bilden – und dieses Archipel wächst, weil die Welt diese Leute isoliert halten möchte.


 

Besagte Welt verschiebt aber lieber die militärisch gesicherten Außengrenzen der Festung Europa immer weiter in den ex-territorialen Süden, lieber als den Betrieb von Lagern wie Dadaab aufrecht zu erhalten <- das sind zwei Skandale. Vom immer weniger existenten europäischen Verantwortungsbewußtsein für die Menschenwürde und die Lebensperspektiven von Kriegs- und Klimaflüchtlingen oder gar der Bekämpfung ihrer Fluchtursachen ganz zu schweigen.

Die Länder der Europäischen Union sollten sich allerdings, ihrer kranken zynischen Logik folgend, mit der Schließung ihres Subsahara-Schutzwalls zum Zwecke der Autokratenstärkung Flüchtlingsabwehr sehr beeilen.

Denn: 2015 mußten UNHCR und World Food Program schon einmal Essensrationen kürzen. Nämlich die syrischer Kriegsflüchtlinge.

Die Folge dieser Unterfinanzierung wurde in Deutschland als „Flüchtlingskrise“ oder auch als „Umvolkung“ bekannt.

 


 

 


Foto 1: Dadaab aus dem All, Screenshot bei Astrium GEO-Information Services/Geoimage
Foto 2: Kind vor den Gräbern von 70 an Unternährung verreckten Kindern am Rand von Dadaab (2011), Oxfam, Wikimedia Commons


5 Kommentare zu „Das Lager als fremder Planet

  1. Es ist erschütternd. Und die europäische Heuchelei zunehmend unerträglich. Und wenn da wieder der Chor derjenigen ertönt, die erklären, man könne halt nicht allen helfen: Mag sein. Aber man kann sich ersparen so zu tun, als hätte man ein ernsthaftes Interesse daran, nur um sich ernsthaft für „gute Demokraten“ und „Verfechter von Menschenrechten“ zu fühlen, und sich auf Kosten der Ärmsten die weiße Weste zu erhalten. Denn erst mit ehrlichen Worten wäre jeder in der Verantwortung. Wer mit der Wahrheit konfrontiert wird, muss Stellung beziehen und Verantwortung tragen. Die Märchenstunde hilft allen, wegzusehen, das illusorische Selbstbild des „guten Menschen“, des „besseren Europäers“ zu wahren. Dass man Frau Merkel für eine derartige Politik, für Unterstützung von Diktatoren, militärische Einsätze in libyschen Hoheitsgebieten, für Gelder an Despoten, für Lager vor Ort (die eben nicht einmal ehrlich kommuniziert wird) noch mit dem Friedensnobelpreis ehren wollte, von Linken gefeiert und Rechten gehasst, das wird mir niemals in den Kopf wollen. Und vergessen wir nicht: Es geht um Dinge, die wir im Überfluss haben. Geld. Und Nahrungsmittel. Aber wie du schon schreibst: Die Verantwortung, die wir jetzt nicht tragen wollen, holt uns früher oder später ein.

    1. Apropos ehrliche Worte: an Nachrichten über die gekürzten Lebensmittelrationen in Kenia gibt es die oben verlinkten Meldungen beim ORF und bei Reuters, fertig.

      Das Totschweigen der Medien – weil sich mit dieser Meldung keine Auflage steigern, keine Klickzahl erhöhen läßt – ist eine der vielen Erodierungserscheinungen in unserer Gesellschaft. Zur Schleifung unserer Werte – im Erschrecken über die menschlichen Möglichkeiten der Shoa und des 2. Weltkriegs für grundlegend, seit der Wende für zunehmend verzichtbar gehalten – benötigen wir keine „Invasoren“. Das schaffen wir schon ganz alleine.

      Das auch anläßlich des Tags der Deutschen Einheit – zu keiner Zeit im letzten Vierteljahrhundert existierte gefühlt so bittere Zwietracht, so unüberbrückbare Differenzen zwischen West- und Ostdeutschland wie heute.

  2. Der Lager-Archipel wächst aktuell am schnellsten in Bangladesh, an der Grenze zu Myanmar. Wo inzwischen mehr als 500.000 Rohingya karge und bedrohte Zuflucht vor dem Genozid in Myanmar gefunden haben (obwohl die Konkurrenz nicht schläft^^ weder in Nigeria noch in der DR Kongo noch im Yemen noch in der Zentralafrikanischen Republik).

    Bill Hayton, Chatham House: The Hard Truth Is Rohingya Refugees Are Not Going Home

    The only likely outcome … is the near-permanent presence of hundreds of thousands of Rohingya along the Bangladesh border. Delaying preparations for a permanent refugee population in the hope that they will be allowed to re-cross the border back into Myanmar will only make the situation worse. Seventy years ago, another ‘temporary’ movement of people into refugee camps created decades of instability around the Middle East. The world must remember the Palestinians as it plans for the future of the Rohingya.

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