Die Erfindung der Kindheit als Idealraum von Schutz, Bildung und fehlendem ‚Ernst des Lebens‘ ist in unseren Breiten nicht alt, gedanklich noch keine 250 Jahre.
Zuvor wurden Kinder als unfertige Erwachsene betrachtet, von den Reichen bis zu ihrer Menschwerdung irgendwohin aufs Land gegeben. Die Kinder der Armen arbeiteten immer schon mit. Ab der industriellen Revolution auch als praktische kleine Sklaven im Bergbau und in der Industrie.
In Florenz starben zwischen 1755 und 1773 im Ospedale degli Innocenti 10.000 von 15.000 nicht gewollter und dort vor die Tür gelegter Kinder.
Im Moskauer Findelhaus überlebten im Jahr 1967 von 1089 abgegebenen Kindern nur 11, eine Todesrate von tatsächlich 99 Prozent! In Mailand oder St.Petersburg, in Frankreich, England, Schweden – Abertausende von Neugeborenen verschwanden in Heimen, in zweifelhaften Ammenhaushalten, … und das, obwohl jedem klar sein musste, das dies ein Todesurteil war. Am Tor des Findelheims in Brescia fand sich … ein Zettel , darauf stand: „Hier werden Kinder getötet, auf Kosten der Stadt“.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ein Drittel der Fabrikarbeiter in den USA zwischen 7 und 14 Jahren alt, in Preußen wurde 1839 (wegen der schlechten gesundheitlichen Ausstattung der Rekruten) Kinderarbeit unter 9 Jahren verboten und die Arbeitszeit der 10-16jährigen auf 10 Stunden am Tag begrenzt. Bis in die 1950er Jahre wurden Kinder armer Eltern aus Tirol, Südtirol, Vorarlberg, der Schweiz auf Kindermärkten als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft nach Schwaben verkauft, wohin sie zu Fuß wanderten und dort bis 1920 von jeder Schulpflicht befreit waren.
In den 1970er Jahre stand das Werk von Johanna Haarer ‚Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind‚ in so gut wie jedem westdeutschen Wohnzimmer, inhaltlich nur knapp von „Volk“ und „Führer“ bereinigt, aufgelegt zuletzt 1996. Die Hauptsorge der dazugehörigen Eltern galt nicht dem Glück ihres ersten Kindes, sondern daß man es zu sehr verwöhnen könnte.
Dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen. Das Kind begreift unglaublich rasch (…). Nach kurzer Zeit fordert es diese Beschäftigung mit ihm als ein Recht, gibt keine Ruhe mehr, bis es wieder getragen, gewiegt oder gefahren wird – und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig.
In Deutschland, den USA und anderen reichen Industrieländern machen rund 20% aller Kinder mindestens eine Erfahrung sexualisierter Gewalt vor dem 16. Lebensjahr. In der großen Mehrheit werden diese Verbrechen nicht von pädophilen, sondern von ’normalen‘ Pädokriminelle verübt. Der Haupttatort heißt Familie und kindlicher Nahbereich.
Der Schutz des ungeborenen Lebens findet mehr laut- und überzeugungsstarke Unterstützer als der Schutz der Rechte geborener Kinder. Alle 5 Sekunden verreckt irgendwo auf der Welt ein Kind unter 10 Jahren an Armut. Kinder in reichen Ländern werden zunehmend selten geboren. Den Kinderreichtum armer Länder nennt man in den reichen Ländern Überbevölkerung, gegen den dringend Geburtenkontrolle nach dem Vorbild der chinesischen Einkind-Politik zu erfolgen hat. Um den reichen Ländern weiterhin Besitzstandswahrung zu ermöglichen und sie vor Flüchtlingen zu schützen. Von denen in der EU schon mal 10.000 unbegleitete Minderjährige verschwinden können.
Kinder sterben vor allem dort im 4-5-Sekundentakt, wo sehr viele Kinder geboren werden – es müssen genug überleben, um ihre Eltern in Alter und Krankheit versorgen zu können, in Ermangelung von Sozialversicherungen, Zugang zu Bildung, sauberem Wasser, ausreichend Nahrung, medizinischer Versorgung.
In Großbritannien dauerte es 95 Jahre, um die Geburtenrate pro Frau von 6 auf unter 3 Kinder zu senken, in Polen 90, in Bangladesh 20, in Iran 10 Jahre, der Trick ist überall der gleiche: Frauenbildung, medizinische Versorgung und Nahrungsmittelsicherheit.
Weibliche Föten in großer Zahl werden in vor allem China und Indien abgetrieben (und weibliche Babies getötet), weil ein Mädchen die chinesische Familie Dank der Patrilinearität aussterben ließe und viele Töchter die indische Familie Dank der Mitgift ruinieren würden. Der chinesische Sextourismus in Folge der Einkind-Politik steht dem aus den westlichen Industrieländer in nichts nach, der Heiratstourismus verlagert den Frauenmangel in China in die ärmeren Anrainerstaaten.
Millionen Bewohner reicher Länder liegen auf der Couch, um ihre Kindheiten zu be- und verarbeiten. Kinder werden zum Babyschwimmen und -yoga gekarrt, in Kinderwagen spazierengefahren, für deren Gegenwert man einen gebrauchten Kleinwagen kaufen kann, sie erhalten mit 4 Jahren den ersten Englisch-, mit 6 Jahren den ersten Mandarinunterricht. Kinder haben volle Terminkalender, eigene Modelabels nebst Make-up und Parfüm, werden in Miniplaybackshows und Sportveranstaltungen vorgeführt. Kinder sind modische Accessoires, erfolgreich zu bewältigende Projekte, kommende Leistungsträger.
Rund 168 Millionen Kinder in Asien, Afrika und Südamerika tragen mit Erwerbsarbeit zum Familieneinkommen bei. UNICEF schätzte 2008, „dass allein in Asien jährlich eine Million Mädchen und Jungen für das Geschäft mit Sex sexualisierter Gewalt ausgebeutet werden. Einer UN-Studie über Gewalt gegen Kinder zufolge werden weltweit 1,8 Millionen Kinder pro Jahr zur Prostitution und Pornografie gezwungen und 1,2 Millionen Kinder wie Ware verkauft – viele von ihnen für sexuelle Zwecke.“
Und die Bumsbomber aus den reichen Ländern sind stets gut gefüllt.
Verursachen unsere Kinder- und Selbstbilder und unser Scheitern zwischen Ideal und Realität nicht auch und mehr Kinderleid als z.B. das Nivea-Werbebild mit Baby und blauem Ball, das Pädophile zur Belassung ihrer sexuellen Präferenz auf der Ebene von Phantasie und Monosexualität benutzen?
Kinder dienen als Öl für die Befeuerung der Heimatfront und der inneren Volksgerichtshöfe und als Munition, um Rechtsstaat und Bürgerrechte zu zerschießen. Benutzt man Kinder, auch als Argument, ist Gegenrede unerwünscht.
Es geht ja nicht um Kinder. Es geht um das, was man in sie hinein projiziert. Nirgends ist moralischer Distinktionsgewinn so billig zu haben wie in dieser Debatte ohne Widerworte.
Bild: USA, Urheber unbekannt, War Production Board, 1942 – 1943, National Archives and Records Administration
Der Text ist eine Überarbeitung meines Blogs von 2014 beim Freitag
Zur Abrundung der Kinderbilder in unseren Breiten ein Film, der mir die Schuhe ausgezogen hat: Vater, Mutter, Plastikkind, ergänzend ein Artikel.
…
https://www.theguardian.com/global-development/2017/mar/13/syrian-children-pushed-to-brink-worst-atrocities-since-war-began-unicef-report
Was wollen Sie sagen?
Kinder werden in jedem Krieg zu Opfern gemacht. Auch, wenn sie oder nahe Verwandte nicht physisch verwundet oder getötet werden. Kinder, die Gewalt als Normalität erleben, tragen nicht nur Traumata davon, sie werden auch später häufiger physisch krank, haben ein erhöhtes Sucht- und Suizidrisiko und sie neigen eher dazu, selbst gewalttätig zu werden.
Es wird dramatisch viel weniger Geld für die Schaffung von Frieden ausgegeben als für Waffen. Demzufolge gibt es immer mehr Kriege, bewaffnete Konflikte und Terrorismus.
Wir haben das unverdiente Privileg, in der friedlichsten Region der Welt zu leben. Jede/r hier lebt im goldenen Luxus – angefangen damit, daß wir unsere Toiletten mit Trinkwasser spülen.
Der guten Ordnung halber: Rächtschreipfeeler getilgt, struppige Formulierung geglättet (nicht zu fassen, daß sowas sogar 2 Überarbeitungen unbemerkt übersteht, grmpf…)
Ein Kapitel hätte ich eigentlich auch noch unterbringen sollen: Hunger.
Als Kind hungern zu müssen, ist ein lebenslängliches Urteil.
Die Chancen von Kindern, die nicht genug und/oder unausgewogene Nahrung bekommen (auch schon vor der Geburt), sind deutlich herabgesetzt.
Sie sind anfälliger für Infektionskrankheiten, bleiben zeitlebens kleiner, sie fangen später an zu laufen und zu sprechen, ihre Gehirnentwicklung ist beeinträchtigt und sie sind depressiv.
Hungernde Kinder sterben schnell, falls sie überleben, sind sie von höherer Bildung praktisch ausgeschlossen und sie bleiben depressiv.
Was das heißt, habe ich erst verstanden, als ich im Norden von Mozambique war, wo nicht nur erst der portugiesische Kolonialismus, dann der Bürgerkrieg herrschte, sondern wo bis heute immer mal wieder gehungert wird – die gesamte Gesellschaft ist traumatisiert und depressiv und es wird mehrere Generationen dauern, bis sich daran etwas ändert. Falls es keine neuen Hungersnöte gibt und das sieht aktuell gar nicht gut aus. Allein in Ostafrika sind 17 Millionen Menschen vom Hunger bedroht.
Das wird im Deutschlandfunk dann so kommentiert: Afrikanische Regime werden für ihren Zynismus belohnt
Obwohl der Herr Schadomsky einen kleinen Teil der europäischen Mitverantwortung ganz zutreffend benennt:
Sven Stockrahm, Zeit Online: Kinderseelen, die nur Inferno kennen
Lesen Sie den Artikel ganz und übertragen Sie das Gelesene auf jedes Kriegsgebiet der Welt, die mehr werden und immer schwerer zu befrieden sind.