„Opfer“

Das Muster des geschändeten, ehrlosen, unreinen Opfers stammt aus den noch gar nicht lange zurückliegenden Zeiten, als Frauen der Besitz von Männern waren und ihr Wert knapp über dem des lieben Vieh rangierte. Diesen Zeiten entstammt auch der Mythos, Männer hätten den stärkeren Sexualtrieb, den Frauen (notfalls mit dem Gedanken an England) passiv und ohne/mit wenig eigener Lust zu befriedigen hätten. Wenn Frauen Lust empfinden, sie äußern, suchen, wollen und sich verschaffen, sind sie auch heute ruckzuck Ehrlose, Unreine, Matratze, Honigfalle, Schlampe. In diesem magischen Denken sind Frauen selbst an Vergewaltigung schuld und dazu müssen nicht erst konservative muslimische Familien ins Visier genommen werden.

Vergewaltigte Männer kommen in diesem Mythos gar nicht vor, denn nicht selbst zu ficken, sondern gefickt zu werden, zur Frau gemacht zu werden, ist maximal ehrverletzendes Tabu für viele heterosexuelle Männer (zu dem mein Freund J. stets die Empfehlung bereit hält, sie sollten das mal ausprobieren, es entspanne ungemein, fördere die Lebenslust und steigere das Denkvermögen).

Ein weiteres Tabu ist sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Ein Tabu ist ursprünglich ein heiliger Ort, dessen Betreten so verboten ist, daß er von der Landkarte gelöscht ist und nicht einmal gedacht werden kann.

Das Tabu der Vergewaltigung ist ein zweischneidiges Schwert: es läßt die Mehrheit unvergewaltigt, im Falle der vergewaltigten Minderheit aber schützt es die Täter, weil Betroffenen nicht geglaubt und/oder sie für geschändet, ehrlos, unrein, unmännlich gehalten werden. Mit diesem Ausblick auf ihre künftige Behandlung werden Vergewaltigte mundtot gemacht – weswegen Vergewaltigungen weitgehend straffrei in einem riesigen nicht-angezeigten Dunkelfeld stattfinden und Scham und Schande am Opfer, nicht am Täter kleben.


Dem Strafrecht wird ohnehin eine stark überschätzte Rolle im gesellschaftlichen Diskurs über sexualisierte Gewalt zugemessen, denn es kommt immer zu spät. Das Strafrecht tritt erst in Erscheinung, wenn eine Vergewaltigung stattgefunden hat, seine Praxis birgt die Gefahr der Retraumatisierung und es ist nicht zur Sühne der Betroffenen gedacht, sondern zum Schutz der Gesellschaft vor künftigen Taten.

Lassen Sie sich das noch einmal auf der Zunge zergehen: Vergewaltigte haben die Gesellschaft zu schützen. Eine schönere Arbeitsplatzbeschreibung ist kaum noch vorstellbar^^


Tragisch (oder komisch, je nach Naturell) ist, daß es Feministinnen – z.B. bei Emma und den Störenfriedas – gibt, die mit ihrem Beharren auf das Etikett „Opfer“ diese Mythen noch am Leben halten helfen. Von ihren Breitseiten und der nachfolgenden Haßkampagne gegen Mithu Sanyal gar nicht erst zu reden.


Der klügste Text, den ich bisher zu Sanyals Wortvorschlag „Erlebende sexualisierter Gewalt“ und zur hm… Diskussion darüber las, kommt von der inhaltlich wie sprachlich großartigen Marion Detjen: Gewalt ohne Namen

Als ich damals, nach dem, was mir im Wald passiert war, nach Hause kam, hatte ich sicherlich kein Wort dafür. Vielleicht sagte ich: „Da kam ein Mann und hat mich vom Fahrrad gezerrt …“ Auch meine Familie fand keine Bezeichnung für das, was mir geschehen war. Es wurde auf keinen Begriff gebracht, und das war in meinem Fall letztlich gut so: Das Tabu schützte mich und sorgte dafür, dass die Deutung dieses – ja: dieses Erlebnisses – bei mir blieb. Die Polizei wollte den genauen Tathergang wissen; für die konkreten sexuellen Gewalthandlungen einen sprachlichen Ausdruck zu finden, war schwer genug.

Das Wort „Vergewaltigungsopfer“ habe ich erst später kennengelernt und es mir, Gott sei Dank, bis heute vom Leibe gehalten. Ich weiß noch, wie erschrocken und angewidert ich war, als ich es zum ersten Mal hörte. Dass es solche Begriffe braucht, um die gesellschaftlichen Folgen von etwas zu regeln, das nie hätte passieren dürfen, ist ein Problem, das ich mir nie zu eigen machen wollte.

Marion Detjen beschreibt weiter unterschiedliche Perspektiven von Vergewaltigung anhand Ovids Metamorphosen und der Sichtweise von Calliope, die sich Ovid zu eigen macht. Während die kaum erträglich geführte Diskussion darum kreist, wer welches Recht zur Etikettierung von Vergewaltigten hat.

Ich verstehe ihren (Sanyals, dvw) Vorschlag als einen, allerdings misslingenden, Versuch, die von Ovid beschriebene Diskrepanz zwischen den hässlichen, gewalttätigen Wörtern, die die Gesellschaft für ihr Funktionieren braucht, und dem Erleben derjenigen, die sich in dieser Gesellschaft plötzlich schutzlos wiederfinden, zu thematisieren. Natürlich ist eine Vergewaltigung ein Erlebnis, und natürlich ist „das Einzige, was Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, teilen, (…) eben dieses Erlebnis“, da haben Sanyal und Albrecht völlig recht. Erlebnisse werden zu Erfahrung, und die Erfahrung können wir uns zunutze machen. In der Erfahrung deuten und interpretieren wir eine Geschichte, die zuallererst uns gehört, und nicht der Gesellschaft. Darin liegt das emanzipative Potenzial des Vorschlags.

Misslungen ist der Versuch jedoch deshalb, weil Sanyal und Albrecht naiv glaubten, durch Ersetzung der hässlichen Wörter gleich auch das Stigma mit zu beseitigen, das wohl in fast allen Gesellschaften mit Vergewaltigung einhergeht. „Doch keine Sorge, es gibt eine Lösung!“, schreiben sie. Nein, so einfach ist es nicht. Solange bei uns Vergewaltigungen vorkommen, wird auch das Stigma da sein. Ändern lassen sich nur die Folgen, die aus dem Stigma erwachsen, und die Art und Weise, wie es wirkt: Es ist immerhin schön und ein Fortschritt, dass wir heute nicht mehr in Bärinnen verwandelt, also ganz aus der Gesellschaft ausgestoßen werden, wie Callisto.

Trotzdem bin ich für ihren Vorschlag dankbar. Er hat mir die ganze grundsätzliche Ambivalenz des Opferbegriffs noch einmal vor Augen geführt. … Diejenigen, die sie (Wiedergutmachungsversuche, dvw) in Anspruch nehmen – in Anspruch nehmen müssen, oft aus bitterster Not –, lassen sich dadurch gewissermaßen ruhigstellen. Das Opfer bekommt einen Status, um den Preis, in die Ordnung einzuwilligen, die sie zuallererst schutzlos gemacht hat, jetzt aber anerkennt.

In folgenden, nicht zitierten Absätzen handelt sie die Lese- und Denkunwilligkeit verschiedener Meinungsinhaberinnen und ihre daraus resultierenden Fehlschlüsse ab.

Man kann ihnen allen das legitime Anliegen zugestehen, auf die Statusrisiken hinzuweisen, die mit der Aufgabe des Opferbegriffs verbunden wären, und die Errungenschaften zu verteidigen, die die Gesellschaftsordnung immerhin vorzuweisen hat. Doch um diesen Zweck zu erreichen, begehen sie den gleichen Fehler, den die Autorinnen begangen haben, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Die Autorinnen wollten die Beseitigung der Diskrepanz zwischen dem Erleben und der Gesellschaftsordnung zugunsten des Erlebens erzwingen. Die Kritiker/innen hingegen leugnen die Diskrepanz, indem sie das Erleben als ein passives „Leiden“ sistieren, dem keine Eigenständigkeit und keine Entwicklung, keine Sprachmächtigkeit und keine politische Kraft zugestanden wird. Offenkundig wird der aktive Anteil des Erlebens und Erfahrens sexualisierter Gewalt als äußerst gefährlich, als regelrecht abgründig wahrgenommen und muss deshalb ausradiert werden.

Das Stigma einer Vergewaltigung ist unhintergehbar. Wir alle haben unabhängig von unserem guten Willen an der Stigmatisierung teil, bis in die Familien und in das privateste Umfeld der Betroffenen hinein. Ich denke, dass der erste Schritt sein müsste, diese Tatsache anzuerkennen. Dann wird es vielleicht auch möglich sein, die produktive und innovative Kraft, die das Stigma auch haben kann, zu erkennen und zu entwickeln, und die Angst vor der Aktivität des Erlebens abzubauen. Das Erleben sexualisierter Gewalt kennt nämlich nicht nur den Täter und die Tat, sondern sammelt auch Wissen um die Verknüpfungen zwischen dem Täter, der Tat, der eigenen Person und dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die Tat stattfindet. Und dieses Wissen und diese Aktivität sollten, gerade weil sie für die bestehende Ordnung so unbequem sind, für echte Veränderungen eingesetzt werden.

Ja!

Lesen Sie beide Texte ganz, hier sind sie noch einmal: Der Geschmack des Verbrechens und Gewalt ohne Namen.


Ich habe unerbetene Expertise (5 Jahre sexualisierte Gewalt, ab dem 4. Lebensjahr, x Therapien, vielen Betroffenen zugehört, viel gelesen) und wer darauf besteht, mich „Opfer“ zu nennen, will mich herabwürdigen, mich klein und mundtot sehen. Denn es gibt kaum etwas in meinem Leben, worum ich so gekämpft habe, als darum, kein Opfer mehr zu sein. Zum Opfer wurde ich vom Täter gemacht – mich von jemandes Objekt zum Subjekt zu ermächtigen, das war/ist anstrengend und schmerzhaft. Dafür erwarte ich Minimalrespekt, auch von den Emmas, Störenfriedas und wer sich sonst noch so alles anmaßt, in meinem Namen zu sprechen. Ich bin übrigens selber groß, sprechen kann ich schon. Sprecht für Euch selbst!

Und ich erwarte, mit brennender Geduld, daß endlich verstanden wird, wo eine/r aufhört und wo ein anderer Mensch anfängt. Darauf, daß sich jede/r für die Befriedigung der eigenen Lust zunächst selbst zuständig fühlt und darauf, daß begriffen wird, daß es kein selbstangemaßtes Menschenrecht auf Sexualität mit einem anderen Menschen gibt.

Das beschreibt den vielbemühten Graubereich zwischen unreifer egozentrischer Sexualität und sexualisierter Gewalt. Der existiert innerhalb unseres mythenschleppenden Systems voller magischem Denken, in dem erschreckend viele Vergewaltigungen stattfinden, die lieber zu kurzen Röcken und unbezähmbaren Trieben angelastet werden, die straffrei bleiben und in dem Vergewaltigte mit diesen Systemfehlern beladen in die Wüste geschickt werden.


Rund 20% aller Kinder machen mindestens eine Erfahrung sexualisierter Gewalt vor dem 16. Lebensjahr, jede 7. Frau und eine unbekannte Zahl Männer erlebt sexualisierte Gewalt als Erwachsene, das Dunkelfeld ist mindestens zehnmal größer als das Hellfeld. Täter sind in der übergroßen Mehrheit „normale“ Männer. Sexualisierte Gewalt hat mit Sexualität allenfalls am Rande zu tun, sie ist in allererster Linie Gewalt zur Ausübung von Macht und Kontrolle über einen anderen Menschen, ausgeübt mit sexualisierten Mitteln. Übrigens nicht selten von Opfern ausgeübt, die sich nach sexualisierter oder anderer Gewalt so unterlebensgroß fühlen, daß sie auch endlich mal ficken wollen, statt immer nur gefickt zu werden. Auch deswegen ist ein ausreichendes Therapieangebot von so grundlegender Wichtigkeit.

Aber: die Wartezeit auf einen adäquaten Therapieplatz beträgt auch im Jahr 7 nach den Skandalen sexualisierter Gewalt der römisch-katholischen Kirche, in Internaten, bei den Grünen etwa 1 Jahr. Nicht bei jedem Therapeuten verlief die Lehrheilbehandlung erfolgreich. Krankenkassen übernehmen die Kosten wirksamer Therapien nicht, zögerlich, nicht lange genug. Die Almosen, die „Entschädigung“ genannt werden, sind der Hohn, sie decken nicht mal die Behandlungskosten. Um einen Antrag auf Rente/Kostenübernahme nach dem Opferschutzgesetz zu stellen, ist man besser krachgesund.

Das zu ändern, ist mir ein wesentlich größeres Anliegen als egal welches Wortgeklingel, das ohnehin durch die Euphemismus-Tretmühle gedreht wird.

(Unfreundliche Empfehlung gelöscht, 4.3. dvw)


Foto (beschnitten): Didier Descouens, Wikimedia Commons


23 Kommentare zu „„Opfer“

  1. Empfehlenswert:
    Mithu Sanyal im dradio (zum Hören): Vom seltsamen Umgang mit angeblich Entehrten
    Leseprobe aus ihrem Buch Vergewaltigung – Aspekte eines Verbrechens
    Eva Thönes, SPON (mit einem Körnchen Salz): Es gibt nur Huren und Heilige

    Die überraschende, jedoch absolut plausible Pointe, die Sanyal aber hier identifiziert: Auch in der feministischen Bewegung wirkt die Formel der asexuellen, verletzlichen Frau und des dominanten Mannes weiter – nur soll der Mann halt seine Triebe nun mal bitte besser kontrollieren. … Von Vergewaltigten wird häufig nicht nur erwartet, das Geschehene zu kommunizieren, um es so zu verarbeiten, sondern auch, sich beschmutzt zu fühlen, sich sexuell zurückzuziehen, Kontakt zu meiden – alles Verhaltensweisen, die an die christlichen Märtyerinnen erinnern.
    Auch hier, merkt Sanyal an, wirkt der uralte Gedanke des Ehrverlusts ausgerechnet in der Emanzipationsbewegung noch weiter, er wird nur anders verpackt.

    Mechthild Müser, dradio: Erniedrigung des Feindes durch Penetration
    Andreas Huckele auf einem Panel zur Zukunft der Reformpädagogik: Macht, Sexualität und Gewalt in pädagogischen Kontexten und in Carolin Emckes Streitraum (der mal irgendwer stecken müßte, daß Christian Füller nichts von Relevanz zum Thema beigetragen hat)
    Antje Schrupp: Von Opfern reden. Maria K. Moser untersucht die Ambivalenz des Opfer-Begriffs
    Und last but not least Hannah C. Rosenblatt: Opfer_Diskurs – Zeit für Mut zum Perspektivwechsel! und last note–Opfer_Diskurs

    Ist Ihnen eigentlich schon mal aufgefallen, daß die Gesellschaft erst in ihren Grundfesten erschüttert war (kurz), als anhand der Verbrechen sexualisierter Gewalt gegen Kinder in RKK, Odenwaldschule, Domspatzen, Grünen usw. klar wurde, daß auch viele Jungen vergewaltigt werden?

    Das soll den großen Verdienst der Feministinnen, Wildwasser usw. nicht im mindesten schmälern, aber die hatten die Jungen schlicht übersehen – wer Information über sexualisierte Gewalt gegen Jungen oder Hilfe sucht: Tauwetter.
    Überhaupt, Hilfe – die beste mir bekannte Traumatherapie: EMDR.

  2. Die überlebenden Opfer unter den Störenfriedas lehnen die mediale Dauerpräsenz Mithu Sanyals ab. Für diese Präsenz kann Frau Sanyal jetzt wirklich nichts.

    1. Hm, an dieser und an anderen Stellen riecht’s ein ganz klein bißchen stalinistisch oder nach Hexenverbrennung, je nach Geschmack. Ich habe es kürzlich mit einer „Glücklichen …, die bislang nicht Opfer sexueller Gewalt wurde“ mit Diskussion versucht, die sich mit dem offenen Brief der Störenfriedas solidarisiert hatte und das auf allen Kanälen kommunizierte – war auch eine Erfahrung.

      Mich irritiert, daß es immer noch erwähnenswert viele Feministinnen zu geben scheint, die Frauen für die besseren Menschen halten und höchst aggressiv reagieren, wenn dieses Heiligenpodest in Frage gestellt wird. Es ist nun wirklich eine Binse, daß sich Frauen seit ein paar Jahrtausenden im Patriarchat einzurichten haben, davon auch zu profitieren meinen und nur deswegen weniger gewaltauffällig sind, weil ihre öffentlich-gesellschaftliche Macht kleiner ist als die von Männern.

      So medial dauerpräsent kann Mithu Sanyal auch gar nicht sein, ich las anläßlich der getwitterterten Vergewaltigungswünsche und Gewaltdrohungen an ihre Adresse das erste Mal über sie/von ihr und bin ziemlich angetan von ihrer Fröhlichkeit (auch deswegen der dradio-Beitrag zum Hören) und von ihrem Rütteln an den Mythengrundfesten.

  3. Danke, guter Beitrag. Irgendwie laufen diese Themen etwas an mir vorbei. Aber der vergewaltigte Mann ist durchaus ein Thema, ob in „pulp fiction“ oder der obligatorische Hinweis, beim Bund oder im Knast in der Gemeinschaftsdusche nicht nach der Seife bücken , ha haha. Da gibt es auch keine Öffentlichkeit fürl
    Ansonst bin ich auch eher ratlos zur bescheuerten Ehrpusseligkeit bis hin zur Realitätsverweigerung. Wobei die hedonistische Bürgerbewegung, ob Porno- oder Swingerclub ja eigentlich auch nicht gerade die gesellschaftlichen Verhältnisse tanzen lässt. Die Nazis haben einerseits die Sexualforschung eliminiert, die bürgerliche Sexualmorals dennoch demontiert, weil Soldaten gezeugt werden musstenl. Das ist geradezu irre, wie die nach dem 2. WK wieder installiert wurde und dann in den Nischen die „freie“ Sexualität gesucht wurde, Diese verknipselten Kunstbilderfetischisten, wie dieser Chefredaktor auf mich den Eindruck macht, als hätte er kürzlich seine Sexualität entdeckt, aber noch keine Sprache gefunden. Meine Güte, dieses Blatt „Lass die Sonne rein“ oder „Hol ihn raus“. Egal, dennoch danke nochmal für den Versuch wiedermal gegen die Scharfmacher und die Sprachlosigkeit anzuschreiben und die Dokumentation des Fortschritts im öffentlich Diskurs. Ich kannte diese neueren Beiträge von MS nicht, wie beeindruckend sie ist.

    1. … oder der obligatorische Hinweis, beim Bund oder im Knast in der Gemeinschaftsdusche nicht nach der Seife bücken , ha haha.

      Gern von Hetero-Männern in Gegenwart von Homosexuellen von sich gegeben, irre lustiger Scherz.

      Ich kannte diese neueren Beiträge von MS nicht, wie beeindruckend sie ist.

      MS – Mithu Sanyal? Oder MD aka Marion Detjen? Oder beide – MS/D?

      1. MS = Mithu Sanyal, Marion Detjen kenne ich auch nicht und bisher nicht weiter nachgelesen.
        Die Homophobie meinte ich eigentlich nicht, aber stimmt sicher auch. Ich habe aber durchaus den Eindruck, daß Männer auch Männer als „Opfer“ stigmatisieren. war mir beim Lesen Ihres Beitrages durch den Kopf gegangen.

        1. Ich habe aber durchaus den Eindruck, daß Männer auch Männer als „Opfer“ stigmatisieren.

          Aber hallo – ich habe seit Jahren die These, daß Frauen- und Homosexuellenhaß ’nur‘ Ausläufer der Geweih- und Schwanzmessererei unter Hetero-Männern ist. Wer dabei durchfällt, kühlt sein Mütchen nicht selten an „unmännlichen“ Männern und an Frauen.

          1. „Vergewaltigte Männer kommen in diesem Mythos gar nicht vor[…]“
            Hier hatte ich angeknüoft. Vielleicht ist es mir nur nicht ganz klar, in welchen Mythos die Männer nicht vorkommen. Ich hatte die Stigmatisierung des „Opfers“ im (Vor-)Urteil der Mitmenschen als Teil des genannten Mythos verstanden. Die Motive von Distanzierung bis Verleugnung oder was auch immer sind vergleichbar, wenn auch in unterschiedlichem Grad. Es funktioniert wie bei anderen stark emotionale verfestigte Haltungen, aber ich sehe die Differenz im Grundsätzlichen nicht.

            1. Ich meinte den Mythos vom virilen unverletzlichen Hetero-Helden-Mann (überlebensgroß).
              In diesem Mythos kommen vergewaltigte Männer nicht vor, obwohl die Mytheninhaber „unmännliche“ und „schwache“ Männer für ihre Rangkämpfe brauchen und sexualisierte Gewalt auch gegen Männer als Kriegswaffe einsetzen (unter Krieg im weiteren Sinn fasse ich auch Knast). Denn zur Frau gefickte Männer und Frauen sind die *Anderen*, über die man sich als Held erheben und in deren mattem Spiegel man die eigene Rüstung erst so richtig erstrahlen lassen kann.

              Frauen können noch das Glück^^ haben, daß der Heldenkrieger sie als seinen Besitz akzeptiert und sie und ihre Nachkommen nährt und schützt. Wofür Frauen Hilf- und Wehrlosigkeit suggerieren, sich in kindliche Jungfrauen verwandeln und sonstwie Attraktivität herstellen: sich mit Lotusfüßen oder hohen Absätzen am weglaufen hindern, sich die Schamlippen korrigieren und die Schamhaare entfernen lassen, sich bis zur Unkenntlichkeit bemalen und Brust und Lippen vergrößern lassen – Attraktivität im intakten Patriarchat.

              Da sich aber viele Frauen und Homosexuelle emanzipiert haben, ist das Patriarchat defekt und der Wannebe-Heldenkrieger stark bedroht, weswegen seine latente Aggression gegen die *Anderen* eher zu- als abnimmt (und weswegen auch erschreckend viele Männer ihre Nachkommen nicht mehr nähren und schützen, sondern nicht mal Kindesunterhalt zahlen, sich aber als Opfer der bösen Frauen fühlen).

              Die eingebildete Unverletztlichkeit solcher Männer trägt zu mehreren gesellschaftlichen Katastrophen bei: zur immensen Gewalt im öffentlichen Raum unter Männern, zur Gewalt gegen Frauen und homosexuelle Männer und zum Umstand, daß Männer früher sterben. Denn unverletzliche Helden altern nicht, sie müssen nicht zum Arzt, sie haben wenig Gefühl für ihre eigenen unverletzlichen Körper (es sei denn, sie haben Schnupfen, dann müssen sie auf Mamas Arm) – geschweige denn dafür, wo ihr Körper aufhört und wo der eines anderen Menschen anfängt.

              Eine Differenz im Grundsätzlichen zwischen Ihnen und mir sehe ich aber auch nicht. Ressentiments gegen Homosexuelle („zur Frau erniedrigte Männer“, „Kinderficker“) gehören nur untrennbar zum Helden-Mythos dazu und es zeigt sich dabei, was sich auch bei der normalüblichen Kinderfickerei und bei Frauenvergewaltigung zeigt: Verwechslung von sexualisierter Gewalt und Sexualität.

  4. „Selbstverständlich soll „Erlebende“ andere Bezeichnungen nicht ersetzen. Wer sich als Opfer, Überlebende*r oder Be­trof­fe­ne*r wahrnimmt, hat jedes Recht sich auch so zu beschreiben! Nur können wir das im Vorhinein ja nicht wissen. Deshalb ist es wichtig, einen Begriff zur Verfügung haben, der eine höchstmögliche Wertungsfreiheit gewährleistet. Aus diesem Grund setzen wir uns dafür ein, „Erlebende“ in den Duden aufzunehmen.“
    https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5379541&s=Sanyal/
    Hatte den Artikel bei Erscheinen auf taz.de gelesen.
    Weiß nicht, warum sich deswegen soviele Aktivistinnen an den Karren gepißt gefühlt haben. Mithu Sanyal und Marie Albrecht machen einen Vorschlag, den sie für mich argumentativ nachvollziehbar begründen.

    Mich interessiert auch nicht so wahnsinnig was Ovid gefühlt kurz nach der Steinzeit dargelegt hat oder wie der Stand des Diskurses zu einer Zeit war, als meine Eltern noch Kinder waren. Ich halte es für wichtiger, wie ich damit umgehen kann, wenn ich weiß, daß jemand/in sexuelle Gewalt erfahren hat und wo da die ganzen Minen liegen, trigger, (falsch zu verstehendes) Mitleid…
    Und natürlich soll Betroffenen therapeutisch soweit wie möglich geholfen werden, daß die damit klarkommen. Weil, siehe vorletzten Satz, das Umfeld indirekt mitbetroffen ist und sehr oft sehr ratlos.

    1. Mich interessiert auch nicht so wahnsinnig was Ovid gefühlt kurz nach der Steinzeit dargelegt hat oder wie der Stand des Diskurses zu einer Zeit war, als meine Eltern noch Kinder waren. Ich halte es für wichtiger, wie ich damit umgehen kann, wenn ich weiß, daß jemand/in sexuelle Gewalt erfahren hat und wo da die ganzen Minen liegen, trigger, (falsch zu verstehendes) Mitleid…

      Das steht im Widerspruch zueinander. Falls Sie es für wichtig halten, wie Sie sich gegenüber Betroffenen verhalten, sollte Sie die Vergangenheit interessieren – weil sie offen oder subkutan in die Gegenwart hineinwirkt und weil u.a. „Ovid gefühlt kurz nach der Steinzeit“ Bilder anbietet, die den Ausdruck von nur schwer Sagbarem erleichtert.

      Ein paar Anregungen, wie Sie mit Betroffenen umgehen können:
      – Ruhe bewahren
      – sich zurücknehmen, zuhören
      – zu nichts drängen
      – Vorsicht mit Körperkontakt, auf Körpersignale achten
      – unterstützen (z.B. Decke/Heißgetränk/Schulter anbieten, auf Wunsch zum Arzt/Polizei/Prozess begleiten, Therapiemöglichkeiten recherchieren etc.)
      – ansprechbar bleiben
      – nichts persönlich nehmen
      – sich auch um Unterstützung für sich selbst kümmern

      Verboten sind Sätze wie ‚Nimm Dich zusammen‘ oder ‚Ist doch alles nicht so schlimm‘, gut sind Sätze wie ‚Es ist vorbei, Du bist in Sicherheit‘. Trigger kann alles mögliche sein, Geruch, Gesten, Stimmlage – wiederum: sich zurücknehmen, auf Körpersignale achten. Mit-Leid ist nur begrenzt möglich, sofern Sie nicht selbst betroffen sind. Überlegen Sie, ob es eher Ihnen selbst nützt oder ob es den/die Betroffene tatsächlich unterstützt.

      1. Nuja, für den Akutfall, hm, ganz so ein Holzklotz wies manchmal rüberkommt, bin ich nicht…
        Die Wahrscheinlichkeit, da zeitnah wissend involviert zu sein ist auch gering und mir noch nicht passiert.
        Mir gehts eher ums Wissen/Nichtwissen dessen, was dem/der Gegenüber passiert ist und wie damit umgehen?!?
        Ich kann ja schlecht nachhaken, wenn zugemacht wird, weil unbewußt ein wunder Punkt getroffen wurde.
        Und bei Wissen brauch ich halt auch nicht mit: „wusstet Du schon was Ovid zu Callisto sagte…“ zu kommen, ist irgendwie unpassend.
        Es ist auch hilfreich, bei näher Bekannten zu wissen, eben daß ich z.B. nicht wie üblich nur mit nem Handtuch bekleidet nach dem Duschen ins Zimmer geh, wenn die zu Besuch sind oder ich dort zu Besuch bin.
        Und ja, ich halte auch nix davon, Betroffene auf „armes bemitleidendes Opfer“ zu reduzieren, ich umgeb mich ja aus anderen Gründen mit denen.

        1. Die Anregungen sind nicht nur für den Akutfall. Es geht nicht darum, mit Ovid-Kenntnissen anzugeben, sondern anhand von z.B. Ovid etwas besser verstehen zu können.
          Abgesehen davon: warum fragen Sie nicht einfach den/die näher bekannte/n Betroffene/n, ob Sie z.B. nur mit einem Handtuch bekleidet vor ihr/ihm rumlaufen können? Die meisten können sprechen…

  5. Vielleicht sollte man weniger über Wörter diskutieren, als vielmehr über Stigmatisierungen die dahinter stehen, Attribute, die in ihrer Funktion nicht hinterfragt werden, obwohl sie vor allem der Beruhigung von eigenen Ohnmachtsgefühlen dienen – der Gedanke: „Mir könnte das ja nicht passieren…weil“ Im Grunde sind wir nämlich alle davon betroffen nur das sich so verdammt viele damit beruhigen sich (ebenfalls) gedanklich über die direkt Betroffenen zu stellen. vor einem Jahr bloggte ich dazu meinen Senf .. https://mundwinkel.wordpress.com/2016/03/

    1. Amen. Ich blätterte gerade in Ihrem Blog, las genau den verlinkten Text und komme aus dem Nicken gar nicht wieder raus…;-)… Herzlich willkommen, o815o!

      Das „Mir könnte das ja nicht passieren…weil“ ist ein vor allem weibliches Anti-sexualisierte-Gewalt-Voodoo und das geht zum Beispiel so:
      Mir könnte das ja nicht passieren, weil
      – ich niemals so die Kontrolle über mich verliere
      – ich niemals so schwach bin
      – ich niemals den Honigtopf vor die Türe stelle
      – mein Rock nie so kurz wäre
      – ich niemals irgendwem so viel Macht über mich einräume



      – ich nicht so bin wie die, denen das passiert
      – mir das also nicht passiert.

      Ich hatte während der jüngsten Diskussion über Opfer und Andere die Idee, daß dieses Voodoo auch mit umgekehrten Vorzeichen funktioniert, in etwa „Mir könnte das ja nicht passieren…weil“
      – ich mich mit Opfern solidarisiere
      – ich an fremdem Leid nippe
      – ich die Deutungshoheit über Selbstbezeichnungen und Diskurs ausübe
      – ich den Königsweg zur Bewältigung kenne und ihn Dir, wenn Du folgsam bist, vielleicht auch verrate
      – yadda yadda

      Beide Voodoo-Versionen sind im Grunde Anfänge der Fabrikation des Feindes, die geht immer mit der Konstruktion der Anderen und der eines Machtgefälles los und spätestens das sind Themen, die alle und jede/n betreffen.

      Mich verstören solche Wortdiskussionen, weil Wörter das dahinterstehende Denken zeigen und mir ist es lieber – weil weniger anstrengend und bedrohlich – ich bemerke das rechtzeitig, ohne Euphemismus-Tretmühle.
      Und ich reagiere auf jede Bevormundung allergisch, wie ich mich zu nennen, was ich warum zu fühlen, zu denken, wie ich mich wozu zu verhalten und was ich so alles zu tun und zu lassen hätte.

      1. Vielen Dank für die Zustimmung und das Willkommen:) Ich habe 15 Jahre schweigend und isoliert vor mich hingebrütet, bis ich nur noch zwei Optionen für mich sah, und nichts mehr zu verlieren hatte rang ich um Worte für ein „Coming out“auf Augenhöhe um dem Stigma die Stirn bieten zu können.Und je länger ich mich damit beschäftigte, je mehr ich Begriff wieviel Macht damit ausgeübt wird (absichtlich und unabsichtlich) desto wütender und überzeugter wurde ich davon jedes verdammte Recht zu haben, mein Schweigen zu brechen. Lg Karin

        1. Na.tür.lich haben Sie jedes Recht dazu! Trotzdem gehört dazu eine große Menge Mut und Konsequenz, ein gerades Rückgrat und eine Haltung und dafür haben Sie meinen Respekt.

          Für mich ist es fast beinahe so etwas wie eine Gnade, so schwer verletzt worden zu sein, daß es für mich eine Überlebensfrage ja/nein war und ist, mich damit auseinander zu setzen und in von mir gewählten Kontexten darüber zu sprechen und zu schreiben.

          Ich habe die Idee, daß das für die minderschwer betroffene Mehrheit eben nicht so ist, es ist keine Überlebensfrage, zumindest keine auf kurze Sicht. Und sich die minderschwer betroffene Mehrheit auch deswegen den Luxus von angemaßter Deutungshoheit, Herablassung, Opfermachung, auch in Form vermeintlicher Solidarisierung, von Täter-Opfer-Umkehr, Feindbildfabrikation, Hate Speech und von Fremden-Haß aller Art leisten kann und leistet. Solche Machtanmaßungen auch so zu nennen, empfinde ich auch abseits der gewählten Kontexte nicht nur als mein Recht, sondern geradezu als meine Pflicht. Das ist ein auch politisches Thema, bzw. für mich ein Beispiel, warum das Private politisch ist.
          Grüße zurück, ich freue mich sehr, daß Sie hier aufgetaucht sind!

          1. Vielen Dank ! Zu späterer -ruhigerer- Stunde werde ich mich auch hier noch weiter durchlesen. Und ja -da bin ich zu 100% dabei – in allen Punkten, es ist politisch.

  6. Ein beeindruckender Beitrag und eine mutmachende Diskussion.
    Kämpferische Kraft in vernünftigen und empathischen Worten.
    Sexualität und Machtausübung dürfen nicht in Zusammenhang stehen.
    Es ist wichtig und stärkend, dass es Menschen gibt, die das betonen.
    Danke an alle, die sich hier geäußert haben.

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