Hauptstadtbesuch

hauptstadtbesuch

Ich weiß nicht, wie es Ihnen so geht: ich meide nach Möglichkeit bestimmte Teile von Berlin (Hauptstadt), obwohl ich mich liebend gern als vorgeblicher Tourist in meiner Heimat bewege. Z.B. liebe ich die 3einhalbstündige Bootsfahrt auf Landwehrkanal und Spree und freue mir jedes Mal ein Loch in den Bauch, wenn ich jemanden auf die Siegessäule oder den Fernsehturm schleppen kann.

Zu den möglichst gemiedenen Teilen gehört der Potsdamer Platz (außer vielleicht zur Berlinale) mit seinen öden, bestenfalls autogerechten Architekturen und so albernen Namen für zugige Straßenschluchten wie Joseph-von-Eichendorff-Gasse. Dazu gehört auch die Gegend um die Museumsinsel inklusive der werdenden Schloßattrappe, der Alexanderplatz, Unter den Linden, das Brandenburger Tor, der Reichstag und das gesamte Regierungsviertel (<-das wird schlüssig vom Boot aus, als Fußgänger ist es die Pest)

Es begab sich aber in der vergangenen Woche, daß ich eine befreundete Künstlerin im Adlon traf, wo sie ihre Arbeiten zum Verkauf ausstellt und das wollte ich unbedingt sehen. Ich war viel zu früh dran und setzte mich also vor dem Brandenburger Tor auf eine Bank in die Sonne, um ein Zigarettchen zu rauchen und den Polizisten beim Aufpassen, den Touristen beim Flanieren und den verschiedenen Touristenbeglückern beim Beglücken zuzusehen – u.a. mit Hilfe von Pferdedroschken, dazu der Herr Pigor:

Der Pariser Platz wird allerseits als gelungenes Architekturensemble gelobt – fällt eigentlich nur mir auf, daß der das Brandenburger Tor viel kleiner macht als das übliche, im Fernsehen übertragene Bild und daß die Mieterschaft (oder Eigentümer?) der angrenzenden Gebäude – Banken, Versicherungen, Starbucks usw. – auch eine ganz eigene Sprache spricht? Probieren Sie es gelegentlich aus: das Brandenburger Tor wirkt von der Straße des 17. Juni viel imposanter und staatstragender als vom Pariser Platz, bei gleicher Blickdistanz.

Auch das Adlon erinnerte ich größer und imposanter, aber das mag an meinen Sympathien mit der glanzvollen Welt im Percy-Adlon-Film liegen. Der Kaffee war jedenfalls gut (nur der Barrista überflüssig schnöselig) und wir plauderten mit einer herzerwärmend netten Gastronomin in très chicem blauen Kostüm, das wunderbar mit ihrem flächig tätowierten Arm harmonierte, sie tritt in ihrer Freizeit als Burlesque-Tänzerin auf. Ja, liebe Touristen, dit is Ballin!

Anschließend huschten wir um die Ecke in die Wilhelmstraße, um einen Blick in die Herend-Galerie im Adlon zu werfen und dort die Belastungsfähigkeit unserer Augen zu erproben. Herend ist DIE ungarische Porzellanmanufaktur, mit unfaßlich gutem Handwerk und gestalterisch so dermaßen drüber, daß es schon wieder toll ist.

Ich lehnte mein Fahrrad an die Adlonwand und schloß es ab (und nicht wie sonst: an, immer), da reichlich Polizei den immer noch abgesperrten Teil der Wilhelmstraße an der britischen Botschaft bevölkert. Das war allerdings sehr stark verboten, ich schob also mein Fahrrad wieder um die Ecke, um es an einen Stapel Absperrgitter anzuschließen – ebenfalls stark verboten – um es schließlich an einem Baum zu parkieren.

Nach den erwartbaren Ahs und Ohs angesichts der Herend-Herrlichkeiten durchschritten wir das verkehrsberuhigte Symbol der Wiedervereinigung (ich zum zweiten Mal überhaupt – einmal, vor Jahren, chauffierte mich nachts ein Taxist durchs Brandenburger Tor), um noch ein bißchen im Tiergarten zu spazieren, entschieden uns dann aber für einen Gang zum Wasser.

Auf dem Weg dahin besuchten wir das Porajmos-Mahnmal (<-so geht Mahnmal, Mr. Eisenman! S. 5, Happy Mahnmal), vorbei an einem Berliner Bären mit Krone und Schärpe, der uns mit stark osteuropäischem Akzent in der Hauptstadt willkommen hieß und vielen weiteren Touristen-Beglückern. Vorbei am Stand der Reichsbürger von staatenlos.info direkt vorm Reichstag, wo wir aggressiv angequatscht wurden (Bannmeile, anyone? Ich, bekennende Naive, dachte immer, Demonstrationen aller Art seien innerhalb der Bannmeile verboten? Der Polizist am Bürgertelefon ein paar Tag später erklärte mir, das sei nur der Fall, wenn die Arbeit des Parlaments beeinträchtigt würde – vom aggressiven Gebaren und Antisemitismus der Reichsbürger ist das aber offenbar nicht der Fall, ***dazu später mehr) Vorbei an endlosen Kolonnen dunkelblau-uniformer Staatssekretärautos mit uniform abgedunkelten Scheiben und wartendem Chauffeur, vorbei am Bundeskindergarten zum Spreekanal.

Dort die ordentlichste Schlafstadt, die man sich nur denken kann: mit Blick auf den erstaunlich nahen Hauptbahnhof (nebst den umliegenden architekturgewordenen Umweltverschmutzungen) und aufs Wasser, durch einen Vorsprung wenigstens etwas vor Regen und von der Polizei hoffentlich! vor Nazis geschützt, residieren Obdachlose.

Was für eine schöne neue Welt Hauptstadt. Es wächst zusammen, was zusammen gehört. Im öffentlichen Raum, der allen gehört.


 

***Von der Wiederherstellung der Ordnung vor dem Parlament:

Gestern fand der erste Teil der Verhandlung gegen Anke Domscheit-Berg im Moabiter Kriminalgericht statt. Sie war am ‚Marsch der Entschlossenen‘ im Rahmen von ‚Die Toten kommen‘ des Zentrum für politische Schönheit beteiligt. Im Anschluß des Marsches wurde auf der Reichstagswiese ein symbolisches Gräberfeld errichtet. Dem Strafbefehl in Höhe von 900 Euro hatte sie widersprochen, Polizisten hatten ihr vorgeworfen, sie hätte in einen Helm gestochen und auf eine Polizistin eingeschlagen. Mit Blumen.

Marsch und Gräbergraben verlief ausgesprochen friedlich und eindrucksvoll. Bis die Polizei das Areal räumte.

Ich verfolgte das Geschehen damals in einem Livestream und erinnere meine Bewunderung, wie geduldig und maßvoll Anke Domscheit-Berg mit den Drohgebärden und der Gewalt der Polizisten umging. Während der Räumung der Wiese vorm Reichstag wurden auch x Journalisten unter unmäßiger Gewaltanwendung verhaftet.


 

Und nun im Hauptstadt-Kontext zusammengefasst: verboten ist würdige Bestattung von auf der Flucht und an der Festung Europa verstorbener Flüchtlinge. Streng reglementiert ist ein Marsch zu ihrem Gedenken. Verboten ist das Hochhalten eines Blumenstraußes. Streng reglementiert ist die Berichterstattung.

Erlaubt ist aggressive staatsfeindliche Propaganda mit grob antisemitischen Stereotypen direkt vorm Parlament. Erlaubt ist die Bebauung noch des letzten Meters Freiraum in Berlin, erlaubt ist jedes Mißverständnis der Hauptstadt als reine „Investoren“-Goldgrube, erlaubt ist die neoliberale Ausbeutung der Stadt und ihrer Bürger, erlaubt ist die Beschneidung bürgerlicher Freizügigkeit zugunsten von Macht, Gier und Angst.

Ich weiß schon, warum ich mich öfter in der Nebenstadt und Parallelgesellschaft Kreuzberg SO36 aufhalte als in der Hauptstadt. Wenigstens, so lange der SO36 noch nicht völlig weggentrifiziert ist.


Foto: Ввласенко (beschnitten)


25 Kommentare zu „Hauptstadtbesuch

  1. Sehr gern gelesen.
    Die sog. Bannmeile ist hier geregelt: http://www.gesetze-im-internet.de/befbezg_2008/index.html
    Die betreffenden geographischen Räume sind hier festgelegt: http://www.gesetze-im-internet.de/befbezg_2008/anlage.html
    Was sich außerhalb dieser, ich nenne sie jetzt einfach mal: Sperrbezirke abspielt, unterliegt meines Wissens dem Versammlungsrecht der Stadt Berlin.
    Aneignung von öffentlichem Raum erlangt angesichts dieser ganzen unkörperlichen Abgrenzungen einen sehr eigenen Klang.

  2. Den Alexanderplatz würde ich aus der Reihung ausnehmen. Es lohnt sich, sich da hinzusetzen und zu gucken. Da sitzt das Volk und es ist einfach ein lebendiger Platz. Also das, was es in Deutschland eher selten gibt. Geradezu faszinierend finde ich, dass selbst bei 30 Grad im Schatten die Leute ausdauernd in der Sonne mit dem vielen Beton sitzen und sich aufgeheizt unverdrossen an Burger-King-Produkten laben. Ein riesengroßer Platz ohne Bäume, und das in Berlin. Man solte den Alex unter Denkmalschutz stellen.

    1. Man solte den Alex unter Denkmalschutz stellen.

      Sie haben schon recht, der Alex ist a class of its own.

      Ich habe den Platz hassen gelernt, als ich ihn auf dem Weg von und zur Arbeit jeden Tag zwei Mal queren mußte (im Rahmen einer pro Strecke eineinhalbstündigen Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln) und zwar quer über den Teil, der beinahe ganzjährig als Fress-, Sauf- und Scheußlichkeitenmarkt dient. Ist mir ein Rätsel, warum die Buden dort zwischendurch überhaupt noch kurzzeitig abgebaut werden – eigentlich müßte nur die Deko geringfügig geändert werden.

      Orte wie Weltzeituhr oder Brunnen gehen angesichts dessen komplett unter.

  3. Ja, der Scheußlichkeitenmarkt. Aber er ist authentisch, das ist, was ich meine. Da funktioniert Angebot und Nachfrage. Das Volk findet es cool, die ganze Hässlichkeit etc. Es ist jedenfalls ein interessanter Ort, ähnlich wie Benidorm oder Ballermann. Die Leute geben Geld für irgendwelchen Krempel aus, der sie sofort befriedigt. Man könnte das als effektiven Kampf gegen neoliberale Zumutungen deuten, auch wenn einem das weder ästhetisch noch vom politischen Anspruch in den Kram passt.

    1. Ja, der Scheußlichkeitenmarkt. Aber er ist authentisch, das ist, was ich meine.

      Bitte? Die Arbeitsbedingungen hinter den pseudo-kunsthandwerklichen Scheußlichkeiten dieses Marktes unterscheiden sich nicht wirklich von denen der Primark-Scheußlichkeiten. Und das halten Sie für „authentisch“ und für einen „effektiven Kampf gegen neoliberale Zumutungen“?

      Neinein, das IST neoliberale Zumutung. Auch Billigscheußlichkeitenkunden sind erwachsene Menschen, die aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit ausgehen dürfen.

  4. Wir sind da sicher nicht auseinander. Das Kunsthandwerk dort ist scheußlich, die Arbeitsbedingungen sind es vielleicht auch. Aber der Kunsthandwerkskrempel wird von den Leuten gekauft, die finden das schön. Dass sie das schön finden, kann man mit ihrer Entfremdung und anders beschreiben. Aber sie machen in dem Moment das, was ihnen authentisch möglich ist. Und dann fahren sie an den Ballermann und trinken Sangria aus Eimern. Mir ist das irgendwie sympathisch, weil die sich damit einen Rest an Autonomie bewahren. Sie widerstehen dem Aufruf, sich in der Gesellschaft so zu verhalten, dass sie besser verwertbar sind. Die kaufen sich keine Nespressomaschine, um ihren Status aufzupolieren.

    Inwieweit ihre Unmündigkeit selbstvderschuldet ist, nun ja. Wir alle sind Produkte unserer Sozialisation. Jemand, der in gehobenen Verhältnissen, auch ästhetisch gesehen, aufgewachsen ist, hat da leicht reden. Das Authentische kann man auch in der Vorliebe für Fabian Silbereisen und Alexanderplatzkitsch finden.

    Darauf einen Eimer Sangria.

    1. …;-)…
      Ich las neulich bei Twitter einen schönen Satz über Weihnachtsmärkte als Orte, an denen man sich soviel Glühwein einlitern muß, bis man Handytaschen aus Filz schön findet.

      Der von Ihnen ausgemachte Unterschied zwischen Nespressomaschine, Primark-Einmalkleid und schöngesoffener Handytasche will mir in Sachen Statusaufpolierung und bewahrter Autonomie nicht ganz einleuchten. Was dem einen sin Uhl, ist dem anderen sin Nachtigall, nein?

      Ich glaube nicht, daß die Befriedigung durch Konsum mit dem dafür bezahlten Preis SO sehr steigt. Statusaufpolierung findet graduell und relativ zur jeweiligen Zahlungsfähigkeit statt, sie verlangt aber stets nach neuer Politur.

    2. Die Prinzessinnenreporter haben charmanterweise soeben den passenden Artikel dazu veröffentlicht: Weil sind die Leute blöd, daraus:

      Meine ungarische Ex pflegte sämtliche gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen mit den Worten zu erklären: “Weil sind die Leute blöd.” Sie hatte recht. Die Leute sind blöd. Sie wählen Trump und AfD. Sie fressen Dreck aus der Tiefkühltruhe. Sie behandeln Krankheiten homöopathisch. Sie machen Urlaub in Mallorca. Sie schauen Musikantenstadl im TV. Sie zahlen 59 Euro, um Mario Barth live zu erleben. Sie glauben, dass die Rothschilds die Welt beherrschen. Weil sind sie blöd.

      Nur Linke wollen das nicht sehen. Linke glauben, dass die Menschen eigentlich klug und gut sind. Die Evidenz spricht zwar – siehe oben – eindeutig dagegen. Das geben Linke notgedrungen auch zu, greifen aber dann zu einem intellektuellen Taschenspielertrick: Ja, sind die Leute blöd, aber nur, weil die Verhältnisse/die Herrschenden/das Kapital sie dazu zwingen. Die Menschen wären gut und vernünftig, wenn die äußeren Umstände sie bloß sein ließen. Diese äußeren Umstände herzustellen, fühlen Linke sich berufen. Weil sind Linke blöd.

      Denn erstens ist die These vom an sich guten Menschen und den schlechten Verhältnissen – Brecht hat daraus gleich ein Theaterstück gemacht: “Der gute Mensch von Sezuan” – logisch nicht haltbar. Heuristisch gilt die Lex parsimoniae, auch als Occams Rasiermesser bekannt: Demnach ist die These stets die richtige, die mit den wenigsten unbewiesenen Annahmen auskommt. Das ist in diesem Fall, bis zum empirischen Beweis des Gegenteils, die Aussage “Weil sind die Leute blöd”. Alles andere ist Wunschdenken.

      Zweitens übersehen Linke, dass die Leute nicht nur blöd sind, sondern das auch mit Lust. Sie sind gerne blöd. Denken ist nämlich anstrengend. Viel einfacher ist es, seiner Blödheit freien Lauf zu lassen. Es macht auch mehr Spaß. Daher die verzückten Gesichter bei Pegida-Aufmärschen und Ähnlichem. Im Chor Schwachsinn zu skandieren, ist fast so geil wie Sex. Weil sind die Leute blöd.

      ff.

  5. Konrad Litschko, taz: „Reichsbürger“ horten Waffen

    Einer taz-Recherche zufolge sind den Behörden weit mehr als 5.000 „Reichsbürger“ bekannt. Hunderte besitzen legal Waffen.

    Eine Länder-Umfrage der taz allerdings zeigt: Die Landesinnenminister haben es mit deutlich mehr „Reichsbürgern“ zu tun, als sie dachten. Und nicht wenige der Extremisten, welche die Bundesrepublik für ein Konstrukt halten und eigene Fantasiestaaten ausrufen, sind bewaffnet.

    Allein im Freistaat Bayern zählten die Sicherheitsbehörden zuletzt 1.700 Anhänger der Szene. 220 von ihnen besitzen scharfe Waffen, 120 weitere einen Schreckschusswaffen. Ein „Alarmsignal“ nennt Herrmann diese Zahl. Noch im Frühjahr hatte der bayerische Verfassungsschutz die „Reichsbürger“ als Szene von „Kleinstgruppierungen“ abgetan. Eine genaue Personenzahl sei nicht bekannt. In Baden-Württemberg kommen die Landesbehörden auf 650 „Reichsbürger“ – zuvor war man von weniger als 100 ausgegangen.

    Eine „niedrige, zweistellige“ Zahl von ihnen besitze Waffen. In Niedersachsen werden 500 „Reichsbürger“ gezählt – 35 von ihnen bewaffnet. In Nordrhein-Westfalen kommt man auf 300 Anhänger, 14 mit Waffen. Hochburgen auch: Thüringen mit 550 und Brandenburg mit 300 „Reichsbürgern“.

    Das Problem: Manche Länder wissen bis heute nicht, wie viele „Reichsbürger“ sich bei ihnen tummeln. So liegen etwa ausgerechnet aus Sachsen keine Zahlen zu Anhängern vor – weil diese dort bisher nicht als rechtsextrem betrachtet wurden und sich der Verfassungsschutz nicht für sie interessierte. Auch in Berlin oder Sachsen-Anhalt zählt man aktuell noch einmal durch. Zu den bisher in beiden Ländern je 100 angenommenen „Reichsbürgern“ wird ein „erheblicher Zuwachs“ erwartet, heißt es dort. Schon jetzt – bei unvollständigen Zahlen – summiert sich die Zahl der bekannten „Reichsbürger“ auf über 5.500 Personen.

    Ob und in welchem Ausmaß „Reichsbürger“ auch illegale Waffen horten, wissen die Behörden nicht. Hier, so heißt es aus den Ländern, stehe man noch vor „ganz anderen Problemen“.

    Weswegen ich auch vorgestern den Polizeibeamten am Bürgertelefon ein ganz klein bißchen ZU tiefenentspannt fand, als er die Performance vorm Bundestag als harmlose Spinnerei abtun wollte. Der Oberreichsbürger von staatenlos.info zum Beispiel ist ehemaliger NPD-Kader und beim Lesen auf dessen Website wurde mir ganz übel.

  6. Am Rande des Themas:
    Markus Ehrenberg, Matthias Meisner, Tagesspiegel: „Baby-Flüchtlingsschwimmen (ab 3 Monate)“ – ist das Satire?

    „Das schaffen wir 2017“ ist die traditionell jedes Jahr zum Ball erscheinende Satire-Broschüre in diesem Jahr überschrieben – und den Machern war es wichtig, dass das Thema Flüchtlinge vorkommt. Im umstrittenen Beitrag finden sich „Angebote“ wie „Baby-Flüchtlingsschwimmen (ab 3 Monate)“, „Vorschul-Flüchtlingsschwimmen (ab 3 Jahre)“ oder auch „Refugiums-Flüchtlingsseepferdchen in Vorbereitung“. Im Text zum „Vorschul-Flüchtlingsschwimmen“ heißt es, die Kurse würden auf das richtige Überlebensschwimmen vorbereiten, „mit Festhalten an Treibgut, Tauchen bei hohem Wellengang, Springen vom Schlauchbootrand und Atemtechniken bei Nacht und Kälte.“

    1. Natürlich sind die Leute wegen der Verhältnisse blöd, wegen was denn sonst? Wegen der Gene? Dann sind wir bei Sarrazin.

      Ich schrob es schon weiter oben: *auch* wegen des verweigerten Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit allein mit „Verhältnissen“ entschuldigen zu wollen, halte ich für Entmündigung und für einen Tritt ins Gesicht aller, die trotz der „Verhältnisse“ mündig denken und handeln.

      1. Und woher kommt die Verweigerung? Ich meine, man hat doch immer nur zwei Möglichkeiten: Entweder hat es mit Sozialisation zu tun, als dem Nachgeburtlichen, oder man arbeitet mit dem genetischen Aspekt. Ich weiß auch nicht, ob man da mit „selbstverschuldeter Unmündigkeit“in Bezug auf Kant es sich nicht ein wenig einfach macht. Der Mensch hat nach Kant generell die Anlagen zum Verlassen der Unmündigkeit. Wie sich das aber in der Praxis gestaltet, ist eine gesellschaftliche Frage. Mit anderen Worten: Auf irgendwas Genetisches zu rekurrieren, bringt mir keine Erkenntnis. Das ist dann so, wie es ist. Dann sind die eben blöd, genetisch bedingt.

        Konkret: Das mit dem Kunsthandwerk sind ästhetische Fragen, die immer auch soziale Fragen sind. Keine genetischen, wenn ich nicht irre.

        Ich sehe auch nicht den Tritt ins Gesicht der Mündigen, denn „die“ Verhältnisse gibt es nicht, sondern nur eine grobe Struktur mit großen Unterschieden für die einzelnen Individuen.

        Kant hat eine schöne Ergänzung durch Marx erfahren. Die sollte man nutzen.

        1. Und woher kommt die Verweigerung? Ich meine, man hat doch immer nur zwei Möglichkeiten: Entweder hat es mit Sozialisation zu tun, als dem Nachgeburtlichen, oder man arbeitet mit dem genetischen Aspekt.

          Nicht selten fußt diese Verweigerung auf schierer Bequemlichkeit – die Entscheidung für Denkverweigerung und Herdentrieb ist auch eine Entscheidung oder anders gesagt: auch eine Nichtentscheidung ist eine Entscheidung.

          1. Ja, die Welt ist komplex. Die neoliberale Ideologie behauptet aber das Gegenteil. Die Welt funktioniert nur nach dem Vewertungsprinzip, dem sich alle zu unterwerfen haben, weil Naturgesetz. Dieselben Leute behaupten dann, die Welt sei komplex. Sich erst einmal ganz unkomplex zu fragen, was ich eigentlich will, halte ich für einen legitimen Ansatz. Die Komplexität, die real existiert, kann ich nur verarbeiten, wenn ich kein Opfer bin.

          2. Schon die Frage, was ich eigentlich will, hat zur Voraussetzung, sich nicht länger als Opfer zu empfinden und selbstmurmelnd ist diese Frage legitim, sie fällt geradezu unter Pflicht aka Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Das ist alles mögliche und unmögliche, nicht aber „unkomplex“, wobei ich pragmatische Ansätze ausdrücklich unter *lebensrettend* fasse.

      2. Also ich bin mir ganz sicher das ich sowohl mündig als auch unmündig sein kann, ob nun selbstverschuldet oder nicht und sogar gleichzeitig. Denn Mündigkeit ist ja kein abschließbarer Prozess und lässt sich eigentlich, sofern man nicht an eine vorgefertigte Zukunft glaubt, nur im nachhinein feststellen, und auch das nur auf subjektiver Ebene.
        (ghoulies singing):If i leeave heere tumorrow, wudd you still remember me… oh damn,.. wrong song
        sry, war lange nicht da, real life sucks
        greetings from the pit -abghoul

  7. Weiter geht es mit der #Blumengewalt, gerade läuft der zweite Teil der Verhandlung gegen Anke Domscheit-Berg, ihre Stellungnahme vom 13.12.16: #Blumengewalt – Wie falsche Beschuldigungen mich vor das Kriminalgericht brachten, daraus:

    Am 28. November 2016 nahm ich zum ersten Mal in meinem Leben an einem Gerichtsverfahren teil. Das war am Strafgericht Berlin Moabit und ich war die Angeklagte. Die Vorwürfe – zwei Körperverletzungen gegen Polizist*innen:

    – einer Polizistin, die mir meinen Blumenstrauß entreißen wollte, soll ich beim “Tauziehen” mit dem Blumenstrauß nebenbei eine kleine Kratzwunde am vorderen Glied ihres Zeigefingers zugefügt haben
    – einem Polizisten soll ich mit einem umgedrehten Blumenstrauß mit dessen Stielen voran unter das Visier in sein Gesicht gestochen haben – dabei soll ich ihn an der Wange verletzt haben, oder doch am Kinn, oder am Hals, oder an der Nase – das ist nach seiner schriftlichen und mündlichen Aussage etwas unklar.

    Beides habe ich jedoch nicht getan. Im übrigen soll ich einen dritten Polizisten mit einem hochgehaltenen Blumenstrauß beim Filmen der Demonstranten behindert haben. Zum Ablauf des Verfahrens werde ich ausführlicher nach dem Verfahrensabschluss berichten. Wer wissen will, wie schräg es dabei zu ging, kann den Artikel im Neuen Deutschland darüber lesen, der nach Verhandlungstag 1 erschien.

    Aus dem Gerichtssaal twittert das Zentrum für politische Schönheit, beginnend mit einem Storify zur ersten Verhandlung.

  8. Über die Techniken der Verwertung Berlins sollte man den folgenden Tagesspiegel-Artikel lesen: Share Deals auf dem Berliner Immobilienmarkt. Wie Investoren den Kreuzberger Büchertisch ausbooteten, daraus:

    Es blieb natürlich nicht unbemerkt. Nachdem der Berliner Büchertisch im Juli die Kündigung für sein Hauptgeschäft am Mehringdamm erhalten hatte, berichteten Medien aus ganz Berlin über die drohende Verdrängung. …

    Nur leider hilft alle Aufmerksamkeit nicht gegen eine schlichte Wahrheit: Wer verschenkt – wie die 2004 gegründete Kreuzberger Institution zuletzt jährlich rund 100.000 Bücher an Schulen, Kitas, Gefängnisse und viele weitere mehr –, bekommt auf dem Berliner Mietmarkt immer weniger geschenkt. Längst gehört ein großer Teil der Häuser im Innenstadtbereich keinen lokalen Eigentümern mehr, mit denen sich, in welcher Form auch immer, reden ließe. In den Fondsgeflechten, die wie bedrohliche Wolken über dem Immobilienbestand hängen, ist keiner, der eine Ausnahme machen könnte, ohne gegen die Regeln eines anderen zu verstoßen, dem er mehr verpflichtet ist als Berliner Altmietern.

    Der Besitzer des Gebäudes, in dem der Büchertisch 500 Quadratmeter mietet, die Firma Taliesin Property Fund, ansässig auf der Kanalinsel Jersey, hat notwendigerweise andere Pläne als ein Festhalten am Status quo. Mit 4150 Quadratmetern in bester Lage im Bergmannkiez lässt sich schließlich Einträglicheres machen als soziale Arbeit.

    Dabei gibt es zwischen der Kiezgröße und der Investitionsfirma auf den ersten Blick erstaunlich viele Parallelen. Beide wurden Mitte der 2000er Jahre gegründet; beide agieren rein privatwirtschaftlich und erhalten keine Förderungen; beide wollen viel in Berlin erreichen. Die einen wollen so viele Bücher wie möglich an bildungsferne Leser bringen, die anderen so viel Gewinn wie möglich an Berlin-ferne Anteilseigner ausschütten. Am Ende wird der Büchertisch Tausenden sozial schwachen Menschen das Lesen nahegebracht und Taliesin aus 23 Millionen Euro Startkapital in 15 Jahren idealerweise 500 Millionen Euro gemacht haben. Beides auf seine Art eine fantastische Leistung.

    Mit 52 Gebäuden, die aktuell 267 Millionen Euro wert sind, ist Taliesin ein mittlerer Investor. Er ist aber in vielfacher Hinsicht beispielhaft: Er sieht Immobilien als reine Kapitalanlage an und verfolgt konsequent seinen Plan, alle 1740 Wohn- und Gewerbeeinheiten einzeln zu verkaufen. Und auch bei der Steueroptimierung ist er durchschnittlich: Sie ist zwar abenteuerlich, aber völlig legal. Und lukrativ: Trotz jährlicher Mieteinnahmen von mehr als 10 Millionen Euro zahlt Taliesin ähnlich viele Steuern wie der gemeinnützige Büchertisch mit seinem Umsatz von 750.000. Wie genau das bei Taliesin alles funktioniert? Kommen Sie mit auf eine Reise in die Welt entfesselter Buchhalter!

    Weiter – fein säuberlich seziert – ein legal-bescheißen-leicht-gemacht der Extra-Klasse, sollte man gelesen haben.
    Besonders, falls jemand glaubt, Andrej Holm sei irgendeine 08/15-Personalie mit Stasi-Vorbelastung und eigentlich bräuchten wir den gar nicht.

    Genova hat über die Verdrängung des Büchertischs zwei Blogs geschrieben: Von der Legitimität des falschen Denkens und Nochmal der Kreuzberger Büchertisch: Vom Briefeschreiben als Akt des Widerstands

  9. Ganz vergessen, das nachzutragen: Anke Domscheit-Berg wurde am 5. Januar tatsächlich wegen Körperverletzung verurteilt, zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen á 30 Euro. Sie soll mit einem Blumenstrauß „bewaffnet“ im Gerangel eine Polizistin an der Hand verletzt haben, nämlich sie gekratzt haben, was die Polizistin selbst als „Lappalie“ bezeichnete. Nachdem die Anschuldigung der Körperverletzung von zwei weiteren Polizisten bereits fallengelassen worden war, weil die sich mit sich selbst nicht einigen konnten, auf welche Weise sie sie verletzt haben soll.
    Anke Domscheit-Berg hat angekündigt, Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen.

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