Screenshot bei Art School Vets. Jonas Dahlberg, Entwurf für die Gedenkstätte auf Utøya
We’re missing a trick when it comes to those carrying out violent acts. Communities touched by violence have an understandable and overwhelming tendency to scrutinise the ways in which extremists, both those we consider “disturbed” and those we consider “ordinary”, are lured into violence. But rather than trying to pathologise the individual or the process that led him there, we should shift the focus instead towards what opportunities are available to us to prevent him resorting to violence in the first place.
In a young extremist’s daily life, in their school, among their family or friends, were there openings, moments when they could have been led to change?
Hateful people have the ability to take charge of their own lives. If we deny this is possible, we stop it from happening. If we see violence as contagious, we can view … (someone’s) act as the latest in an epidemic of young men who are not necessarily deeply disturbed, but rationalise their own violence and are inspired by others across the world. But if we did more to anticipate and intervene before such individuals erupt, then there is potential to stop ordinary people from becoming murderers.
Rather than looking for the moment they “snapped”, we should be looking for the missed opportunities in the ways our societies handle them: the many moments when we could have changed their perceptions and steered them away from violence. We need to ensure that similar opportunities aren’t missed with others.
Ihler verlor Freunde auf Utøya und überlebte nur knapp. Heute lebt der 25-Jährige in Istanbul und engagiert sich im Namen der Stiftung des früheren UN-Generalsekretärs Kofi Annan für die Vorbeugung gegen extremistische Gewalt. Annan hatte ihn und neun weitere Überlebende von Terror – etwa aus London, Syrien und Pakistan – im April als Botschafter zusammengerufen. Sie treten weltweit unter dem Motto „extremely together“ (extrem gemeinsam) auf. …
Der Terrorist von Norwegen habe aus Angst vor Verschiedenheit gehandelt. Darin ähnele der Rechtsextremist den Tätern des „Islamischen Staates“ oder der Taliban. Die Menschen müssten dazu ermutigt werden, die Verschiedenheit in ihrer Umgebung zu schätzen und zu „umarmen“.
Stattdessen herrsche Angst davor, dass Verschiedenheit die eigene Identität bedrohen könne, fügte Ihler hinzu. Das zeige sich bei der Entscheidung der Briten für den Brexit oder der US-Republikaner für Donald Trump.
Das zeigt sich auch in der Entscheidung von AfD- und Unions-Politikern, den gestrigen Amoklauf mit 10 Toten in München für ihre politischen Agenden zu mißbrauchen, bei Metronaut ein paar Beispiele. (Nachtrag 13h45) Stefan Niggemeier über ein anderes Beispiel absichtvoller Lügerei als Geschäftsmodell.
Kaum weniger widerlich fand ich die „Berichterstattung“ bei ARD und ZDF und bei einigen nach Clickbait geifernden Medien. Wann und durch welchen Terrorakt wurde eigentlich der Pressekodex „neutralisiert“?
In den Social Media verhallte der mehrsprachige und -malige Aufruf der Münchner Polizei ungehört, bitte keine Bilder und Videos vom Tatort, von den Toten und von Polizisten online zu stellen. (Nachtrag 15h15) Buzzfeed ordnet von Social-Media-Nutzern verbreitete Fotos ihren tatsächlichen Ereignissen zu. Wahrscheinlich lieb gemeint, aber in seiner Wirkung verstörend empfand ich auch den Angang, Katzenbilder unter dem Hashtag München zu twittern.
Carolin Emcke: Unwirklich
In dem grandiosen Dokumentarfilm „Schlagworte – Schlagbilder“ sitzen der tschechische Medientheoretiker Vilém Flusser und der Filmemacher Harun Farocki im Café an einem kleinen, runden Holztisch. Hinter sich ein Fenster zur Straße, vor sich nur ein weißer Aschenbecher und die ausgebreitete Ausgabe der Bild-Zeitung vom 26. November 1985 (die damals noch 60 Pfennig kostete). Das ist auch schon das ganze Programm: Die beiden denken und sprechen zusammen, sie betrachten und analysieren die Zeitung vor sich auf dem Tisch. Jede Zeile, jede Überschrift, jede grafische Setzung, jedes Foto, jede Bildunterschrift wird ruhig und präzise auf seine Absicht und seine Wirkung untersucht. Dabei gestikuliert der eine mit der Pfeife, der andere raucht eine Zigarette. Mehr Handlung gibt es nicht. Allein der unaufgeregte Ton dieses Gesprächs, die Konzentration auf einen einzigen Gegenstand, der gegenseitige Respekt und die Fähigkeit, sich tatsächlich zuzuhören, sind aus heutiger Sicht schon eine Sensation.
Selbst die bösartigste Vision wird wie selbstverständlich dargeboten
Nach etwa acht Minuten, sie sind noch immer bei der Analyse der ersten Seite, sagt Vilém Flusser trocken und in wunderbar eigenwilligem Deutsch, es werde „auf dieser Seite verhütet, dass wir die Dinge entziffern.“ Farocki und Flusser zeigen, wie Bild Tatsachen und Ereignisse in der Welt nicht übersichtlich in Meldungen und Geschichten sortiert und einordnet, sondern wie vielmehr eine mutwillig rauschhafte Nervosität alles unübersichtlich und chaotisch macht. Die Zeitung bemühe sich nicht, die Wirklichkeit zu beschreiben oder zu erklären, sondern versuche im Gegenteil, das Verständnis der Wirklichkeit zu verhindern. Dabei würden permanent Werte als vermeintlich allgemein geteilte unterstellt, um letztlich vor allem die individuelle Urteilsbildung der Leserinnen und Leser zu unterbinden. „Das sogenannte Wirklichkeits-Niveau„, sagt Flusser schließlich, „ist das Niveau zwischenmenschlicher Brutalität.“
Je länger dieses Gespräch zwischen Filmemacher und Philosoph andauert, desto unheimlicher wird es, den beiden zuzuschauen. Denn nach einer Weile klingt die Analyse des Mediums Bild-Zeitung aus dem Jahr 1985 erstaunlich zutreffend nach einer Analyse der Wirklichkeit im Jahr 2016. Was damals noch lediglich als Ausdruck eines hemmungslosen Boulevards vorstellbar war, ist inzwischen längst politische Realität.
Ob das Referendum über den Brexit, der Anschlag von Nizza, der Ausnahmezustand mit Massenverhaftungen in der Türkei oder der Wahlkampf von Donald Trump in den Vereinigten Staaten – das historische Geschehen in den vergangenen Tagen und Wochen überfordert in seiner rauschhaften Nervosität noch den nüchternsten Nachrichten-Junkie.
Die dramatischen Entwicklungen in der Türkei, die gerade einen Putsch nach dem Putsch erlebt, übersteigen selbst die zynischsten Dramatisierungen eines Zeitungsmachers. Das unwahrscheinlich Brutale ist wahrscheinlich geworden. „Wenn du diese Sorte Sehnsüchte hast„, so beschreibt Flusser die suggestive Ansprache der Zeitung an ihre Leser, „schäm dich nicht, es ist das Normale.“
Man wagt kaum noch, den Fernseher einzuschalten oder Twitter zu benutzen. Alles wirkt zu schrill, zu irrational, zu wahnwitzig. Vor allem zu schnell. Dauernd drängt es einen, den Verlauf der Geschichte entschleunigen zu wollen. Dauernd möchte man die Gegenwart unterbrechen und zurückkehren an jenen Punkt in der Vergangenheit, an dem man noch meinte, etwas verstanden zu haben. Oder an dem es politisch noch nicht ins Irreale abgedriftet war. Aber wann war das?
Jakob Augstein am Donnerstag: Keine Panik? Und ob!
Wann nennen wir eine Gewalttat Terror, wann nennen wir sie Amok? Bei der Frage steht viel auf dem Spiel. Unsere Sicherheit und unsere Demokratie. Beide sind in Gefahr.
Ist Terror Wahnsinn? Nach dem 11. September 2001 spielte diese Frage keine wichtige Rolle. Es leuchtete uns offenbar ein, dass jemand ein Flugzeug in einen Wolkenkratzer flog. Aber nach Nizza und nach Würzburg stellen wir plötzlich die alte Frage nach Tat und Schuld. Sonst ist das eine Sache für den Strafprozess. Für Richter, Staatsanwälte, Gutachter. Plötzlich bekommt die Frage eine politische Dimension. Von ihrer Antwort hängt mehr ab als uns lieb sein kann: unsere Sicherheit, unsere Demokratie.
Wann nennen wir eine Gewalttat Terror, wann nennen wir sie Amok? Terror ist ein politischer Begriff. Amok ist ein psychologischer. Die Gewalttat von Nizza wurde bereitwillig zum politischen Akt erklärt: der französische Premierminister, die deutsche Bundeskanzlerin, die voraussichtliche amerikanische Präsidentschaftskandidatin – alle waren sich einig darin, dass es sich hier um Terror gehandelt hat. Warum? Weil der Täter einen tunesischen Namen trug? Weil er, wie das Gerücht es wollte, „Allahu akbar“ gerufen haben soll. …
Alle Welt sorgt sich nach Putsch und Gegenputsch um die Demokratie in der Türkei, in einem Land, das nicht einmal Mitglied der Europäischen Union ist. Gleichzeitig nehmen wir es voller Verständnis hin, dass Frankreich zum Polizeistaat wird. Der Ausnahmezustand, der seit vergangenem Herbst gilt, wurde gerade erneut verlängert. Jenseits der Pariser Boulevards und der Strände der Côte d’Azur verwandelt sich das Land: seit der Verhängung des Ausnahmezustands gab es dort mehrere Tausend Hausdurchsuchungen, einige Hundert Verdächtige wurden vorläufig festgenommen, in Polizeigewahrsam gehalten oder unter Hausarrest gestellt – alles ohne Gerichtsbeschluss.
Im Inneren unterwirft sich hier die Politik der Logik der Polizei, im Äußeren jener des Militärs. Nach den Anschlägen in Paris im Herbst 2015 hat Frankreich sein militärisches Engagement im Nahen Osten verstärkt. Aber wie soll ein Luftangriff über Syrien einen Attentäter in Nizza von seinem furchtbaren Vorhaben abhalten? Und was vermögen die Befugnisse des Ausnahmezustands gegen einen bislang unauffälligen Täter, der seinen persönlichen Wahn mit einer frei verfügbaren, wirren islamistischen Ideologie verknüpft und dann mit Alltagsmitteln eine furchtbare Gewalttat verübt? Solche Strategien dämmen die Gewalt nicht ein. Sie fördern sie. Und sie untergraben unsere Demokratie.
Nicht nur in Frankreich, auch bei uns wird der Firnis der Demokratie dünner. In Würzburg hat die Polizei den Tatverdächtigen getötet. Die Grünen-Politikerin Renate Künast fragte noch in derselben Nacht: „Wieso konnte der Angreifer nicht angriffsunfähig geschossen werden????“ Enorme Empörung folgte. Weil Künast es gewagt hatte, das Vorgehen der Polizei infrage zu stellen. Ist das schon ein Sakrileg? Für das Verhältnis der amerikanischen Öffentlichkeit zu ihrer Polizei hat der Journalist Bernd Ulrich gerade von einer „schier undurchdringlichen Hülle aus Hypermoral“ gesprochen. Zivile Gesellschaften kennen solche der Kritik enthobenen, undurchdringlichen Hüllen nicht. Aber wie zivil sind wir noch?
Lassen Sie uns noch einen kleinen Moment bei der Kollektiv-Panik von gestern abend bleiben:
Was wäre, wenn in der eigenen Nachbarschaft kein Amoklauf, sondern regelmäßig oder oft oder jeden Tag oder andauernd terroristische oder kriegerische Gewalt stattfände?
Genau: Sie und ich würden wahrscheinlich in ein sicheres Land fliehen.
Weswegen es auch so wichtig ist, daß alle hier, die ihren Verstand noch nicht völlig an ihre Ängste und/oder an faschistoide Agenden verloren haben, sich „extremely together“ verhalten und achtsam und aufmerksam gegenüber jedem Menschen sind. Bitte versuchen Sie, so zivil und so mutig zu sein, die Verschiedenheit in Ihrer Umgebung zu schätzen und für den Erhalt der Demokratie und für die möglichst immer besser scheiternde Umsetzung der universal gültigen, unveräußerlichen, unteilbaren Menschenrechten Haltung zu zeigen.
Was Björn Ihler, einer der Überlebenden von Utoya im ersten Beitrag anspricht, vermisse ich auch – bei der Diskussion über Gewalttaten, Gewalttäter, Amokläufer. Haben die tickenden Zeitbomben im Lauf ihres Lebens bis zum „Ausbruch“ keine Anzeichen, womöglich eigener Nöte oder geplanter „Rache“akte erkennen lassen? „…Looking for the missed opportunities in the ways our societies handle them: the many moments when we could have changed their perceptions and steered them away from violence….“ Gelegenheiten und „offene Zeitfenster“ rechtzeitig wahrzunehmen, potentielle Täter und/oder Psycho- und Soziopathen von ihrem destruktiven Weg abzubringen oder wenigstens das Schlimmste zu verhindern.
Der entscheidende Punkt scheint mir Ihr Fazit: sich „extremely together“ verhalten und achtsam und aufmerksam gegenüber jedem Menschen. Egal ob es sich Krieg, Bürgerkrieg, Amok oder Terroranschlag nennt.
Georg Seeßlen mit einem extrem lesenswerten, langen und klugen Artikel bei ZON: Gebannt von Mord und Terror
Ich wüßte nicht, wo mit Zitieren anfangen und wo aufhören, deswegen: lesen!