„Obergrenze“

In Nord-Europa wurde jede „Obergrenze“ der Flüchtlingsaufnahme überschritten, der „Volkstod“ steht unmittelbar bevor. Aber: nicht verzweifeln! Rettung naht!^^

Gestern in der Süddeutschen: 4 607 686 Syrer sind als Flüchtlinge bei den UN registriert. Das sind so viele Menschen, wie zusammengenommen in Sachsen und Bremen leben. Wahrscheinlich haben deutlich mehr ihr Heimatland verlassen. 6,5 Millionen Menschen sind zudem innerhalb Syriens vertrieben worden, aus ihren Häusern, Städten und Dörfern, mehr als die Bevölkerung von Hessen.

Mehr als 11 Millionen Menschen an der Obergrenze jeder Erträglichkeit ihrer Lebensumstände, viele längst darüber hinaus. Menschen, die oft mit knapper Not mit dem Leben davongekommen sind. Sie leben in Zelten, Containern und überteuerten Löchern, sind oft hoch verschuldet, Kinder gehen oft schon seit Jahren nicht mehr zur Schule. Menschen verhungern und erfrieren.

Der Grund für vermehrte Flucht nach Nord-Europa liegt aber selbstredend nur in Angela Merkels „Wir schaffen das“.

Im vergangenen Jahr hatte der UNHCR schmale 7,2 Milliarden Dollar zur Versorgung der syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge in den Anrainerstaaten und in Syrien selbst erbeten. Davon gezahlt wurden ganze 52%. Deswegen mußte die minimale finanzielle Unterstützung für sehr viele Flüchtlinge erst eingeschränkt, dann gestrichen werden. Das World Food Program mußte selbst die Lebensmittellieferungen in den Lagern einschränken. In denen keineswegs alle Flüchtlinge leben, im Libanon gibt es gar keine Lager, in der Türkei, die numerisch und mit Abstand die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, leben nur zwischen 10 und 15 Prozent nicht mitten in der türkischen Gesellschaft.

Im Libanon kommt derzeit 1 syrischer Kriegsflüchtling auf etwa 5 Libanesen. Jordanien gibt ein Viertel seines Staatshaushalts für Flüchtlingshilfe aus, beide Länder haben einen hohen Stand an „alten“ Flüchtlingen, nämlich die, die vor Jahrzehnten aus Israel/Palästina geflohen sind und nur in Jordanien wenigstens teilweise eine Staatsangehörigkeit und damit Bürgerrechte haben. In der Türkei ist ein riesiger Schwarzmarkt rechtloser syrischer Billiglöhner entstanden, inklusive reichlich Kinderarbeit, der wiederum den türkischen Arbeitsmarkt destabilisiert.

Bisher war in keinem dieser 3 Länder oder in irgendeinem anderen mir bekannten armen Land mit vielen Flüchtlingen die Rede von „Obergrenze“ und Volkstod“. Länder wie Kenia und Tanzania waren imstande, Hunderttausende Flüchtlinge aus Ruanda und Kongo zu integrieren und zu naturalisieren, man liest sowas seltsamerweise nie in europäischen Medien.

Der UNHCR hat seinen Finanzbedarf 2016 zur Versorgung der syrischen Flüchtlinge mit 8,9 Milliarden Euro beziffert. Bleibt spannend, wieviel Prozent davon in diesem Jahr gedeckt werden.

Seit Jahrzehnten ist die Anhebung der Entwicklungshilfe auf 0,7% des BIP reicher Länder beschlossene Sache. Im vergangenen Jahr – Einlösung der Milleniumsziele – schaffte es Deutschland auf 0,42%/BIP. Während jeder in Entwicklungshilfe investierte 1 Euro schon unter Heidemarie Wieczorek-Zeul 1,80 Euro zurück in die deutsche Wirtschaft spülte und die in armen Ländern von international agierenden Konzernen wie Glencore hinterzogenen Steuern die gezahlten Entwicklungshilfen um ein Vielfaches übersteigen, wovon u.a. europäische Kommunen profitieren.

Aber neben den Dänen geht es ja besonders den Deutschen sehr schlecht. Sie würden am liebsten ihr Land mit der Laubsäge aussägen, isoliert in den Weiten des Pazifiks unterbringen und sich einzwei arme Länder halten, um nach dem Vorbild Australiens jede Flüchtlingsaufnahme zu unterbinden. Deutsche sind nämlich aktuell so vom IS-Terror bedroht, daß Live-Blogs zu Hausdurchsuchungen geschaltet werden müssen. Sie sind in ihren Werten, ihrer Identität, ihrem ganzen Sein durch die Flüchtlinge „Invasoren“ so beeinträchtigt, daß zwar Politiker aller Parteien von „Obergrenzen“ schwafeln, aber nur und nur die AfD damit auch wirklich „Schießbefehl“ meint. Weswegen man sich mit der AfD auf keinen Fall in „Elefantenrunden“ setzen darf, ihren Positionen nicht widersprechen, man sie sich selbst damit nicht nach Kräften blamieren lassen und man sie schon gar nicht durch gute Politik überflüssig machen kann (ich kann nicht fassen, daß ich Christian Lindner (FDP) mal zustimmen muß).

Deutsche müssen sogar ihre Toiletten mit Trinkwasser spülen.

Wir legen eine Schweigeminute ein.

14 Kommentare zu „„Obergrenze“

  1. Mely Kiyak gestern (unbedingt ganz lesen, wie immer großartig)-> AfD: Das Dreamteam des Volksempfindens

    Wir erleben in Deutschland Stück für Stück, wie die Parteien mit ihren politischen Ideen am Grundgesetz scheitern und infolgedessen das Grundgesetz infrage stellen. Der Innenminister schlug im vergangenen September vor, einfach das Grundgesetz zu ändern. Vor einigen Jahren war es undenkbar, dass man das Recht auf Asyl politisch anzweifelt. Man behalf sich zwar mit einem Zusatz, das dieses Asylrecht de facto abschaffte, aber es stand noch und sollte dort auch bleiben. Dennoch findet, angefangen von der AfD über die CSU/CDU bis hin in die SPD ein, wie es immer so schön heißt, kräftiges „Rütteln am Asylrecht“ statt. Um das Wohl der Flüchtlinge geht es schon lange nicht mehr. Man hat das Gefühl, dass die wahren Opfer von Krieg und Armut wir Deutschen sind. Zusammen mit den Österreichern, Ungarn und so weiter.

    Es fängt immer klein an. Und dehnt sich so weit aus, wie die anderen Parteien nicht Einhalt gebieten und Grenzen setzen. Was die AfD betrifft, hielt man es stets mit Verständnis und Herumgeeiere. Im heutigen Zitat geht es deshalb um einen Satz, der noch nicht gesprochen wurde. Er ist ganz simpel. Aber man hört ihn einfach nicht. Zwar haben sich hier und da ein paar Politiker angeekelt dazu herabgelassen, den Schusswaffengebrauch als „enthemmt“ (Steeven Brets, Generalsekretär CDU Brandenburg) oder „absurd“ (Wolfgang Bosbach, CDU) zu titulieren, aber es geht es nicht um Moral, sondern um die Demokratie. Und so vermisst man einfach dieses Statement:

    Die AfD ist eine demokratisch legitimierte Partei, die die parlamentarische Demokratie abschaffen will.

  2. Ebenso pro-asyl mit einem sehr lesenswerten Text (dessen Reblog ich mir erlaube, auf der pro-asyl-Seite gibt’s noch jede Menge vertiefender links)-> Beim Schießbefehl angekommen: Der Überbietungswettbewerb in der Flüchtlingsdebatte

    Kaum ist das Asylpaket II, das u.a. den Familiennachzug von Flüchtlingen einschränkt, Abschiebungen von psychisch Traumatisierten ermöglicht und auf rechtsstaatlich problematische Schnellverfahren setzt, von der Bundesregierung beschlossen worden, geht es prompt mit politischen Vorstößen weiter. Jeden Tag fordern diverse Politiker weitere Verschärfungen – die Bilanz allein der letzten Tage:

    Seehofer folgt der Maxime „keine Partei rechts der CSU“

    An vorderster Front befindet sich wie so oft CSU-Chef Horst Seehofer. Seit Monaten befeuert er die Debatte mit rechtspopulistischen Tönen, nun droht er bereits für Februar mit einer Klage gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Gemäß der alten Strauß-Devise, dass für eine Partei rechts von der CSU kein Platz im demokratischen System sein dürfe, versucht Seehofer sich die zur AfD abgewanderten Wähler zurückzuholen – indem er immer schärfere Forderungen stellt.

    Der Beitrag der SPD: Leistungskürzungen und Residenzpflicht

    Auch die SPD beteiligt sich munter am Wettbewerb. Die neuesten Vorstöße: Arbeitsministerin Nahles fordert Leistungskürzungen für „Integrationsunwillige“, berücksichtigt dabei aber nicht, dass Flüchtlinge aktuell bereits monatelang auf Integrations- oder Deutschkurse warten müssen. NRW-Ministerpräsidentin Kraft erneuert derweil die Forderung von Parteichef Gabriel nach einer Residenzpflicht auch für anerkannte Asylbewerber – integrationspolitisch kontraproduktiv, aber ein deutliches Signal dafür, dass man jeden Tag über neue Schikanen nachdenkt.

    Rückkehr nach Syrien in drei Jahren?

    Wer sich jedoch getreu den Vorstellungen von Andrea Nahles integriert, dem droht neues Ungemach: Angela Merkel betont nun, es handele sich ohnehin nur um eine temporäre Aufnahme, der Schutz sei auf drei Jahre befristet. Danach erwarte sie eine Rückkehr in die befriedeten Gebiete in Syrien und dem Irak. Wie der syrische Bürgerkrieg in drei Jahren beendet sein und die Region stabilisiert werden soll, bleibt dabei ebenso offen wie die Frage, wie die jetzt ohne Not begonnene Rückkehrdebatte sich auf das Gelingen der Integration auswirken wird.

    Jeden Tag ein neues „sicheres Herkunftsland“

    Bei der Einstufung von Staaten als „sicheres Herkunftsland“ Vorschlag an Vorschlag: Nachdem in den Verhandlungen zum Asylpaket II – ungeachtet der Menschenrechtssituation dort – schon die Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko als solche benannt wurden, will Sigmar Gabriel nun noch die Türkei dementsprechend einstufen, obwohl in den Kurdengebieten seit Monaten bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen und die Pressefreiheit stark eingeschränkt ist. Die CSU hat derweil eine ganze Palette an angeblich „sicheren Herkunftsländern“ parat: Neben Mali, wo 650 Bundeswehr-Soldaten im Rahmen „einer der gefährlichsten Missionen der Vereinten Nationen“ (Verteidigungsministerin von der Leyen) stationiert sind, sind auch noch Armenien, Bangladesch, Benin, Gambia, Georgien, Indien, die Mongolei, Nigeria, die Republik Moldau und die Ukraine vorgesehen. Bei dieser Ansammlung von friedvollen und demokratischen Staaten scheint es nur eine Frage der Zeit, bis auch Nordkorea auf Aufnahme in die Vorschlagsliste hoffen darf.

    Altmaier: Einfach abschieben, egal wohin

    Auch Kanzleramtschef Altmaier, von der Kanzlerin ernannter Flüchtlingskoordinator, will da beim allgemeinen öffentlichen Fordern von diesem und jenem offenbar nicht zurückstehen und möchte straffällige Asylbewerber nun – wenn sie nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können, weil dort Menschenrechtsverletzungen drohen – einfach in Drittstaaten wie die Türkei zurückschicken. Auch hier ist nicht klar, wie das funktionieren soll, zu befürchten bleibt aber, dass man, wie schon beim EU-Türkei-Deal, auf die Dienste des autoritär regierenden Präsidenten Erdogan zurückgreifen möchte – wohlwissend, dass dieser es mit den Menschenrechten auch nicht so genau nimmt.

    Umfragewerte der AfD: Rechtspopulismus salonfähig gemacht

    Nachdem die Anti-Flüchtlings-Rhetorik nun also vollends im politischen Diskurs angekommen ist, verschärft die AfD ihren Ton immer weiter. Mit ihren hilflosen Versuchen, die Wählergunst zurückzugewinnen, indem sie selbst nach rechts rücken, haben die anderen Parteien den Rechtspopulismus salonfähig gemacht. Beflügelt von den guten Umfragewerten sprechen nun die AfD-Vorstände Beatrix von Storch und Frauke Petry kurz nacheinander vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge zur Sicherung der deutschen Grenze – während die alten Positionen nach und nach von den etablierten Parteien übernommen werden, radikalisiert die Partei sich immer weiter.

    Die Übernahme rechtspopulistischer Positionen führt nicht dazu, dass die AfD verschwindet, sie führt im Gegenteil dazu, dass sie mehr Zulauf erhält, da ihre menschenverachtenden Äußerungen plötzlich akzeptierter Teil des politischen Diskurses sind. Die Politik muss den Überbietungswettbewerb, wer die schärferen Töne in der Debatte um Flüchtlinge anschlägt, daher endlich beenden und sich auf die Grundwerte unserer Gesellschaft besinnen. Menschenverachtung gehört nicht dazu.

  3. Bei Pixeloekonom, von Johannes Eber-> Die unsichtbare Grenze: Wie Zollschranken das Flüchtlingsleid vergrößern

    Wie viel mehr Menschen könnten ein besseres Leben leben, weil sie der Handel mit Europa wohlhabender gemacht hätte, wenn es ihnen nur erlaubt wäre, mit Europa Handel zu betreiben?

    Die Bundesregierung verhandelt gerade 150.000 Arbeitserlaubnisse (für syrische Flüchtlinge, dvw) mit der jordanischen Regierung aus. Im Gegenzug stellt sie dem Land Handelserleichterungen mit der Europäischen Union in Aussicht. Mit diesem 400-Millionen-Menschen großen Wirtschaftsraum handelt Jordanien bisher nämlich kaum. Im Gegensatz zu den USA. Aus mehreren besonderen Wirtschaftszonen Jordaniens werden jährlich Waren im Wert von 1,4 Milliarden Dollar zollfrei in die USA exportiert.

    Jordanien möchte gegenüber der EU nun die Vereinfachung der so genannten Ursprungsregel durchsetzen, die festlegt, wie viel Prozent eines Produkts im Ursprungsland produziert sein muss, damit es Zollvergünstigungen in der EU erhält. Wobei das Wort “Zollvergünstigung” ein Euphemismus ist, bedeutet die “Vergünstigung” doch eigentlich, dass die Preise für das Recht gesenkt werden, Zugang zu einem Markt zu erhalten.

  4. Im Absatz zu Altmeier erlaube ich mir, Ihre Interpunktion im Titel zu korrigieren. Es muss heißen: „Altmeier einfach abschieben, egal wohin.“ (Doppelpunkt weg.)

    Der Fülle Ihrer Informationen ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Lindner ausnahmsweise mal gut .

    Es gibt Deutsche, denen ist 1 Flüchtling bereits zu viel, andere wünschen sich weniger Deutsche in diesem versifften Land. Daher fordere ich eine Obergrenze für Idioten.

  5. Georg Seeßlen, wie immer lesenswert (in Teilen sogar die Diskussion), anhand des angeblichen Todes eines Flüchtlings am LaGeSo über das Internet: Entwirklichung der Welt

    Alte und neue Medien verbanden sich zu gewaltigen Mainstream-Bewegungen. Immer weniger Meinungen treffen mit immer weiter ausdifferenzierten Mitteln aufeinander. Selbst in der äußeren Form ist nicht zu übersehen: Alles wird immer gleicher. Und auch die traditionellen Medien – die Zeitungen, Nachrichtenmagazine und seriösen Funk- und Fernsehprogramme – erkrankten an den neuen Verflüssigungs-, Mainstreaming- und Hysterisierungstendenzen. Die Information wechselte nicht nur ihre Medien, sie wechselte auch ihr Wesen.

    Eine Hyperinformationsgesellschaft entsteht nicht allein durch eine absurd gestiegene Menge von Informationen und eine absurd gesteigerte Geschwindigkeit – immer warten wir auch auf den Moment, der in der fiktiven Welt der Finanztransaktionen längst eingetreten ist, nämlich dass die Nachricht schneller ist als das ihr zugrunde liegende Ereignis, genauer gesagt: Die Fähigkeit, eine Nachricht zu produzieren, ist bereits das Ereignis selber. …

    Für die informationelle Moderne war eine Nachrichtenlage typisch, die Hans Magnus Enzensberger vor einem halben Jahrhundert als „Scherbenhaufen“ bezeichnet hat. … Der informationelle Scherbenhaufen mochte zwar vom Standpunkt einer linearen Geschichte der Aufklärung durchaus unproduktiv sein, er war indes keineswegs nur verwerflich. Denn es war ebendieser Scherbenhaufen der Nachrichten und Botschaften, der verhinderte, dass aus den Informationen wieder die eine, verbindliche, schließlich dogmatische Welterzählung, kurz gesagt Ideologie wurde.

    1. In der taz gibt’s noch ein paar mehr Details: Die Polen-Connection

      Gleichzeitig meldete die antirassistische norwegische Internetseite „Vepsen“, dass sich das „Nationalradikale Lager“ (Obóz Narodowo-Radykalny, OLN) offiziell in Norwegen etabliert hat und der Verdacht bestehe, dass aus dessen Umfeld Aktionen gegen Muslime und Flüchtlinge durchgeführt worden seien. Das OLN hatte im November auch internationale Aufmerksamkeit erregt, als Mitglieder in Wrocław eine „Judenpuppe“ verbrannt hatten.

  6. milchhonig: Ich fasse mal zusammen

    Brennende Autos = linker Terror
    Brennende Flüchtlingsheime = besorgte Bürger

    Mely Kiyak: Deutschland im Kreisverkehr

    Wir kreisen immer um uns. Es dreht sich stets um die Angst, die „wir“ vor „ihnen“, den Fremden, haben. Um die Erschöpfung unserer Helfer. Um die Sorgen unserer Politiker. Um die Anstrengung unserer Kommunen. Um die Lösungen, die „wir“ mit den Diktatoren vor Ort treffen müssen. Unsere Kapazitäten, unsere Machbarkeit, unsere Ressourcen, kurz, wir, die Egogesellschaft, rücken uns ins Zentrum aller Debatten.

    Die schutzsuchenden Asylbewerber sind in diesem Land darauf angewiesen, dass sie in der Öffentlichkeit eine Stimme bekommen, die durch unermüdlichen Protest stellvertretend für sie um ein würdiges und gesundes Leben in Deutschland kämpft. Nichts ist selbstverständlich. Kein Brot, kein Wasser, kein beheiztes Zelt, keine Decken, keine Medikamente. Es ist nicht der Staat, der die Flüchtlinge in Schutz nahm, sondern es waren die Bürger, die im Widerstand zu einem nicht funktionierenden Staat dafür sorgten, dass es Notfallbetreuung und Erstversorgungen gab. Die politischen Parteien haben derzeit keinerlei Skrupel, sämtliche Bedenken der rechtsradikalen Kräfte in ihre politischen Programme zu integrieren, aber sie haben immense Skrupel, in der Öffentlichkeit souverän aufzutreten und für die Sache der Flüchtlinge einzustehen. Die Folge sind weitere Asylrechtsverschärfungen an einem Asylgesetz, das es eigentlich schon lange nicht mehr gibt.

    Es ist alles eine Frage der Perspektive. Im Moment gestaltet sich der Diskurs so, dass die Aufnahme der Flüchtlinge zähneknirschend erfolgt war, weshalb alles, was den Flüchtlingen zugute kommt, wie Impfungen oder Schulpflicht, der Öffentlichkeit als Maßnahmen erklärt werden, die man gezwungen war zu ergreifen. Kaum einer traut sich zu sagen: Es ist mir eine Ehre, alles Menschenmögliche für die Flüchtlinge zu tun.

  7. Le monde diplomatique, Ulrike Guérot und Robert Menasse: Lust auf eine gemeinsame Welt. Ein futuristischer Entwurf für europäische Grenzenlosigkeit

    Vor 1914 hat man kein Visum gebraucht, um mit der Droschke von Paris nach Moskau zu reisen und in Berlin die Pferde zu wechseln, wie Stefan Zweig schrieb. Man musste damals auch kein Geld wechseln – die Gulden nicht und nicht die Taler – oder wäre gar ins „europäische Ausland“ gereist, wenn man die Postkutsche von Wien nach Lemberg nahm und zwischendurch in Budapest haltmachte. „Ausland“, schrieb Heinrich Mann, „war vor 1914 bloß eine Redensart.“ Und man konnte ohne Visum von Moskau aus in die Sommerfrische nach Baden-Baden oder Nizza reisen; oder von Berlin an die Kurische Nehrung. Oder auch von Belgrad nach Sofia. Und für alle, die heute ihren Pass für etwas völlig Normales und Notwendiges halten: Das, was wir heute unter einem Pass verstehen, gibt es erst seit dem 21. Oktober 1920.

    Damals definierte der Völkerbund, wie ein „Passport“ ausgestattet und beschaffen sein müsse, um von den Staaten der Welt als Reise- und Grenzübertrittsdokument anerkannt zu werden. Interessant (und leider vergessen) ist die Präambel, die der Völkerbund der Definition eines international anerkannten Passes voranstellte, nämlich dass die Einführung des Passes nur vorläufige Gültigkeit habe, bis zum „complete return to pre-war conditions which the conference hopes to see gradually re-established in the near future“.

    Und viele andere interessante Denkanstöße mehr, lesen!

  8. Carolin Emcke: Beiläufig

    Einige von den Flüchtlingen begannen ihre Anmerkungen mit einer Zahl: „Seit 55 Tagen bin ich hier…“, „vor 162 Tagen bin ich angekommen …“, „seit 420 Tagen …“ was immer Trauriges sie danach zu erzählen hatten, blieb hinter dieser Zahl zurück. Es konnte alles heißen: 55 Tage ohne Fassbomben, 55 Tage an einem Ort, an dem es Strom gibt, 55 Tage in der Schlange vor dem berüchtigten LaGeSo, 55 Tage allein ohne Eltern.

    Eskapismus, so wurde schnell deutlich an diesem Abend, Eskapismus ist ein larmoyantes Konzept, das jene, die wirklich geflohen sind, nicht begreifen können. Es erscheint ihnen nicht nur abwegig, es ist ihnen schlicht nicht gegeben. Ein Satz wie „Wir schaffen das“ käme ihnen nicht in den Sinn, weil es für sie gar keine Alternative dazu gibt. „Wir schaffen das nicht“- wann hätten sie das sagen sollen? Auf der Flucht durch die Ägäis? Bei ihrer Ankunft hier in Berlin? Nach 55 Tagen im Heim? Nach 162 Tagen ohne Bescheid über ihren Asylantrag?

  9. Tagesspiegel: Der Mann, der den Toten vom Lageso erfand

    Seit Monaten springen Freiwillige dort ein, wo der Staat versagt. Bei keinem von ihnen äußert sich Erschöpfung so drastisch wie bei Dirk V. Aber sie alle sind am Ende ihrer Kräfte.

    Es sind Menschen, die nicht dazu ausgebildet sind, sich vor dem Schlafengehen Geschichten von abgetrennten Gliedmaßen und lebensgefährlicher Flucht anzuhören. Psychologen kennen das Phänomen, wonach die Erzählungen eines Traumatisierten den Zuhörer traumatisieren können. Deshalb erhalten Angestellte, die in sozialen Berufen arbeiten, normalerweise Supervision, fachliche Unterstützung von Experten. Internationale Hilfsorganisationen holen ihre Mitarbeiter regelmäßig aus den Krisen dieser Welt zurück, damit sie nicht durchdrehen.

    Für die Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe ist die Krise immer da. Weil sie nirgends angestellt sind, schickt sie niemand in den Urlaub.

    Eine Studie der Humboldt-Universität hat ergeben, dass die meisten ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer jung und weiblich sind, oft haben sie selbst Migrationshintergrund. Als Hassoun im Sommer 2014 das erste Mal eine Notunterkunft betrat, roch sie ihre Kindheit. Sie war als Sechsjährige aus dem Libanon nach Deutschland gekommen. „Deshalb kann ich nicht wegschauen“, sagt sie. „Es war damals das Schönste, dass Ehrenamtliche uns aus dem Heim mit in den Zoo genommen haben.“

    Jouanna Hassoun wurde im Herbst der Verdienstorden des Landes verliehen. Ihr Einsatz wurde gewürdigt. Das ist eher eine Ausnahme. Wer sich bei der Freiwilligen Feuerwehr einsetzt, gilt zweifelsfrei als gesellschaftlich engagiert. Wer Flüchtlingen beim Überleben hilft, muss damit rechnen, nicht nur von AfD und Pegida beschimpft zu werden.

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